Viel Kraft für den pünktlichen Stundenschlag
Der Türmer von Derwitz und seine Kirchturmuhr
Axel Merten ist gelernter Maurer. Stolz berichtet er, dass er bei der Sanierung des Einsteinturms und bei der Restaurierung des Babelsberger Schlosses dabei war. Aber die schwere Arbeit bei Wind und Wetter zehrte an seiner Gesundheit. Heute ist Axel Merten Hausmeister einer großen Schule in Werder (Havel). Die Freizeit widmet er seinen Oldtimern, mit denen er an Schaufahrten und Rallyes teilnimmt.
Axel Mertens große Liebe ist die historische Turmuhr der Derwitzer Dorfkirche. Die Uhr wurde 1892 von der Firma C.E. Rochlitz hergestellt. Erst kürzlich wurden im Zuge der Gebäudesanierung die vier Zifferblätter in pulverbeschichtetem Aluminium erneuert. Zifferblätter sind Wind und Wetter ausgesetzt und deshalb echte Verschleißteile. Im Turm und im Dorfmuseum werden Vorgängermodelle aus verzinktem Eisen und Holz aufbewahrt. Die mechanischen Teile der Uhr befinden sich aber vor der Witterung geschützt im Turminneren und funktionieren zuverlässig seit 130 Jahren.
An jedem Sonnabend steigt Merten auf engen Treppen und Leitern den Kirchturm hoch, um die Turmuhr aufzuziehen. Schon im 1. Obergeschoss des Turmes hört man es irgendwo weiter oben vernehmlich ticken. Zwei Gewichte hängen an Stahlseilen, über handgeschmiedete Umlenkrollen geführt, vor der Südwand bis in dieses Geschoß hinunter. Es ist Zeit, die Gewichte wieder ganz nach oben zu ziehen, bevor sie den Boden berühren. Das große Gewicht gehört zum Schlagwerk, das kleine gehört zum Uhrwerk. Vom 1. Obergeschoss könnten wir auch in den Dachraum über dem Kirchenschiff gelangen und den um 1450 errichteten Dachstuhl bewundern – ein Meisterwerk mittelalterlicher Zimmermannskunst.
Wir steigen aber gleich weiter zum 2. Obergeschoss des Turmes, dem Uhrengeschoss. Geschützt durch einen eingestellten, begehbaren Holzverschlag arbeitet hier das mechanische Werk, dessen Pendel, das schon unten vernommene Ticken verursacht. Der gusseiserne Rahmen des Werks enthält zwei Trommeln, auf die jeweils eines der Stahlseile gewickelt ist. Die Seile führen zunächst nach oben, werden zweimal durch Rollen umgelenkt, um dann mit den Gewichten frei vor der Südwand herunter zu laufen.
Axel Merten nimmt die große Kurbel von der Wand und zieht zunächst das Uhrwerk auf. Dann setzt er die Kurbel um und zieht das Schlagwerk auf. Um etwa zehn Meter müssen die Gewichte hochgezogen werden. Das Aufziehen ist eine durchaus anstrengende sportliche Übung. Schließlich sind beide Gewichte an ihrer Ausgangsposition unter der Holzdecke zum Glockengeschosss angelangt.
Merten zückt sein Smartphone: Die Zeitangabe der Turmuhr stimmt zu seinem großen Stolz ganz exakt mit der offiziellen Zeit überein. Wenn es nicht so wäre, müsste er das Pendel mit der Rändelschraube justieren. Auch die Intensität des Stundenschlages könnte er mit Hilfe der am Schlagwerk angebrachten Windflügel einstellen. Abschließend greift Merten zum Ölkännchen und schmiert die Mechanik an den vorgesehenen Nippeln. Es ist bestes säurefreies, nicht verharzendes Schweizer Uhrenöl.
Wir sind neugierig und wollen sehen, wohin die vom Uhrwerk über Zahnräder angetriebene vertikale Welle und das kleine vom Schlagwerk ausgehende Zugseil nach oben durch die Decke des Verschlages führen. Wir klettern zunächst weiter bis in das 3. Obergeschoss des Turmes, das Glockengeschoss. Wenn das Schlagwerk am Seil zieht, wird hier über einen Kipphebel ein handgeschmiedeter Hammer ausgelöst, der nicht etwa an eine der historischen Bronzeglocken sondern an eine Stahlglocke schlägt, die wie ein nach unten offener Kochtopf geformt ist. Sie hängt am Turmfachwerk gleich neben einer der Schallluken, so dass der Stundenschlag im ganzen Dorf zu hören ist. Ein Stoßdämpfer sorgt je nach Einstellung für einen weichen oder harten Anschlag.
Die vertikale Welle des Uhrwerks endet erst im Dachgeschoss des Turmes und zwar mit einem kegelförmigen Zahnrad, das seinerseits in die vier Himmelsrichtungen abgehende horizontale Wellen treibt. Diese Wellen bewegen – unmerklich langsam – die Zeiger der vier ZifferblätteWir steigen ab und erreichen gerade noch rechtzeitig die Eingangshalle des Turmes, bevor das Feierabendgeläut jede Verständigung unmöglich macht.
Text und Fotos: Hans Tödtmann