Die Retortenstadt Kirchmöser und ihre Gotteshäuser

Eindrücke von einer Exkursion der Evangelischen Akademie Berlin

Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 beschloss die Regierung des Deutschen Reiches, auf einer südwestlich der Stadt Brandenburg in der Havel gelegenen Halbinsel eine Munitionsfabrik  zu  errichten. Die  isolierte Lage des Areals sowie dessen Nähe zur Bahnlinie Berlin-Magdeburg galten als ideale Standortfaktoren. In kürzester Zeit wurde eine Stadt mit Verwaltungs-, Forschungs-, Produktions- und Sozialbauten sowie einem Kraftwerk aus dem Boden gestampft. Bereits im Mai 1915 konnte die Pulverproduktion und wenig später auch die Zünderproduktion beginnen. Im Herbst 1915 waren hier nicht weniger als 4.000 Arbeitskräfte und 2.000 Kriegsgefangene in der Rüstungsproduktion beschäftigt. 1916 wurden der Wasserturm und der Bahnhof in Betrieb genommen. Die Retortenstadt erhielt den Namen Kirchmöser. Sämtliche Werksgebäude wurden aus solidem roten Klinker in einem neoklassizistisch-modernen Baustil errichtet. Die weitgehend erhaltene Anlage steht heute unter Denkmalschutz und erschließt sich durch einen Industrielehrpfad. Ein negativer Standortfaktor der neuen Fabrikanlage waren fehlende Wohnorte für die Facharbeiter und Angestellten. Es wurde daher zunächst im nahen Plaue eine Werkssiedlung errichtet. Die Seegartenbrücke verbindet die Halbinsel mit dem Dorf und der nach Brandenburg führenden Reichsstraße 1. Nördlich von Plaue entstand eine im Heimatschutzstil gestaltete Reihenhaus-Siedlung. Sie  wurde 1917 fertig gestellt und strahlt noch heute dörfliche Idylle aus.

Sehenswert ist die schön restaurierte historische Pfarrkirche im alten Dorf Plaue. Pfarrer Christian Bochwitz  erläuterte, dass der einschiffige gotische Backsteinbau von 1217 in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer zweischiffigen Halle erweitert wurde. Dabei wurden um 1400 entstandene Fresken durch Pfeiler und eingezogene Gewölbe verdeckt und im Übrigen übertüncht. 1984 freigelegt werden konnte u.a. eine Darstellung des Weltenrichters umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten. Die im nahe gelegenen Schloss residierenden Patronatsfamilien haben sich im Chor der Kirche mit  Epitaphien  von  hoher künstlerischer Qualität verewigt. Vor der Kirche erinnert ein Denkmal an die Opfer des Ersten Weltkrieges. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Anlagen für die Rüstungsproduktion demontiert. Die Werksgebäude blieben jedoch erhalten. 1920 erwarb die Reichsbahn den gesamten Komplex, um dort Lokomotiven und Waggons instand zu setzen bzw. herzustellen. Der Großteil der Beschäftigten der ehemaligen Rüstungsbetriebe konnte übernommen werden. 1926 zählte das Reichsbahnausbesserungswerk etwa 2.500 Beschäftigte.

Auf der Halbinsel Kirchmöser selbst war vor dem Ende des Ersten Weltkrieges mit Ausnahme von Baracken für die Arbeiter und einigen Villen für Militärbeamte noch keine Wohnsiedlung entstanden. Die Reichsbahnverwaltung ließ in der Zeit der Weimarer Republik die Werkssiedlungen Kirchmöser West und Ost in der Form von Gartenstädten errichten. Hier handelt es sich zu einem großen Teil um mehrgeschossige Mietwohngebäude. Nicht weit von dem alten Dorf Kirchmöser und seiner Dorfkirche fügt sich die in den Jahren 1922-28 entstandene Siedlung Kirchmöser Ost ein in die Dünenlandschaft zwischen nicht weniger als drei Seen. Zunächst fanden hier 1.600 Bewohner ein Zuhause. Die in gemäßigt moderner Architektur gehaltenen Typenhäuser bilden auf perspektivische Wirkung angelegte Straßenräume und Plätze. Eine hufeisenförmige Wohnanlage umschließt einen von Kiefern bestandenen Hügel.

Zwischen den genannten Villen und Baracken entstand in den Jahren 1922- 25 die Siedlung Kirchmöser West für2.330 Bewohner. Ein Rondell mit Linde und der quadratische Marktplatz bilden die Mitte der Walmdach-Siedlung. Länger warten mussten die Bewohner auf eine Kirche.

Gemeindeznetrum Kirchmöser West

Sie entstand mitsamt einem Gemeindezentrum erst 1929. In der Gestaltung des Haupteingangs und des Turms zeigen sich Anklänge an Expressionismus und Art déco. Aktuelle Bauschäden an der Gebäudehülle sind nicht zu übersehen. Wir erfuhren, dass die Gemeinde 2015 im Gemeindesaal eine große Zahl von Asylbewerbern vorübergehend untergebracht und betreut hat. Herr Eichmöller vom neu gegründeten Kirchbauverein teilte mit, dass die Gemeinde die Sanierung des Gemeindezentrums angehen will, um die modernisierten Räumlichkeiten auch den Familien und Vereinen der West-Siedlung für Veranstaltungen zur Verfügung stellen zu können. Inzwischen liegt dem Förderkreis Alte Kirchen ein Zuwendungsantrag aus Kirchmöser West vor.        

Hans Tödtmann

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