Der Engel von Tintoretto
Zur Geschichte eines Niederlausitzer Altargemäldes
Rudolf Bönisch ist Diplom-Geologe. Er war Leiter und Initiator von zwei internationalen Orgelmusikfestivals. Seit nunmehr zehn Jahren beschäftigt er sich mit den sakralen Bildwerken in Kirchen Ost-, Mittel- und Norddeutschlands.
Auf der A 13 von Berlin kommend wird das kleine Dorf Trebbus erreicht, wenn man die Abfahrt Duben nimmt, auf der B 87 Richtung Herzberg fährt und in Hohenbucko nach links abbiegt. Nach den Kirchdörfern Proßmarke und Hillmersdorf wird Trebbus erreicht und die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts aus regelmäßigen Feldsteinquadern erbaute Kirche ist nicht zu übersehen. Das aus Westturm mit barocker Schweifhaube, Saal und langen Chor mit im Norden angebauter Sakristei errichtete Kirchengebäude besitzt noch die beiden spitzbogigen Portale auf der Südseite und der Durchgang vom Chor zur Sakristei ist auch spitzbogig. Dagegen ist der Triumphbogen rundbogig. Imposant ist die bemalte Holztonne im Chor. Sehenswert ist auch der Taufstein in polygonaler Kelchform mit Maßwerkdekor aus dem 15. Jahrhundert. Das Chorgestühl ist „am Tage des Barnabas“ 1521 datiert und zeigt barock überfasste spätgotische Flachschnitzerei. Die Orgel auf der oberen der zwei Emporen wurde 1792 von Johann Christoph Schröther d. Ä. erbaut. Das Werk ersetzte die Stettiner Firma Barnim Grüneberg mit ihrem Opus 524 im Jahre 1906.

Der hohe Altaraufsatz auf der mittelalterlichen Mensa ist heute in weiß mit goldenen Absetzungen gehalten. Er stammt aus der Werkstatt des Finsterwalder Kunsttischlermeisters Abraham Jäger. Der aus dem heute in Polen gelegenem Triebel stammende Abraham Jäger, der auch ehrenamtlicher Bürgermeister von Finsterwalde war, starb am 2. Juni 1714. Im Sterberegister heißt es, dass er „im Leben ein guter Künstler gewesen und viel Kirchen mit neuen Altären und Cantzeln“ versehen hat. Die meisten seiner rund 40 Werke sind heute noch erhalten. Der Altaraufsatz weist eine enge Verwandtschaft mit dem diesbezüglichen Werk Jägers in der Dorfkirche Massen (1701) auf. Damit ist davon auszugehen, dass der Trebbuser Altar um 1701 entstanden ist. Die Inschrift auf der Altarrückseite bezüglich der Schaffung der Gemälde von Magdalena Sophia Rumpf aus Dresden („Magdalena Sophia Rumpin / pinxit, anno 1724“) ist heute nicht mehr sichtbar. Dese wurde 1917 noch genannt und dürfte im Rahmen einer Restaurierung überstrichen worden sein. Der große Altar hätte mit dieser Annahme fast ein viertel Jahrhundert ohne die biblischen Gemälde in der Kirche gestanden. Die überlieferte Geschichte vom Todessturz der Malerin muss nicht in Trebbus passiert sein. Die Kreuzigung und die Auferstehung sind auf Leinen und nur das Abendmahl auf dem Holz der Predella gemalt. Möglich ist somit, dass sich das tragische Ereignis beim Bemalen der Holztonne in der Stadtkirche St. Marien Kirchhain 1741 ereignete.
Während Abraham Jäger in seiner frühen Schaffensperiode Altaraufsätze mit den drei übereinander stehenden Gemälden Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung schuf, zeigen seine späteren Werke das Abendmahl, die Kreuzigung und die Grablegung Christi als Gemälde und darüber der auferstandene Christus mit Siegesfahne als Schnitzfigur die Altaraufsätze bekrönend. Magdalena Sophia Rumpf malte das Bild des letzten Abendmahles auf der Predella nach einem Kupferstich von Matthäus Merian d. Ä. aus Basel, den dieser 1627 stach. Dabei veränderte sie das Motiv so, dass Christus mit Johannes im Arm in der Mitte der Tafel zu sitzen kam. Das Gemälde mit Christus am Kreuz und den darunter stehenden Personen Maria und Johannes ist auf Leinwand gemalt und hat größtenteils einen anonymen Kupferstich nach Maarten de Vos aus Antwerpen als Vorlage. Dieses Blatt gehört zur 15teiligen Kupferstichserie „Szenen der Passionsgeschichte Christi“, die undatiert ist und ein Titelblatt hat. Der Christus am Kreuz folgt einer anderen Druckgraphik.

Gemälden von Magdalena Sophia Rumpf von 1724
in der Dorfkirche Trebbus

Christi von Magdalena Sophia Rumpf am
Altaraufsatz in Trebbus
Das ebenfalls auf Leinwand gemalte Bild der Grablegung Christi zeigt wie Joseph von Arimathea, Nikodemus, der Lieblingsjünger Johannes und ein weiterer Mann den Leichnam von Christus in einen Sarkophag betten. Nikodemus hält Christus mit beiden Händen unter den Armen. Johannes hat einen Arm von Christus um seine Schulter gelegt. Der vierte Mann legt die beiden Beine ins Grab und Joseph mit einem Turban drapiert das Leichentuch. Hinter der Grablegungsszene stehen fünf Frauen mit weißen Schleiern und beweinen den Toten. Eine Frau hat ein Salbungsgefäß bei sich. Am Himmel über dem Grab schwebt ein Engel mit der Christi Dornenkrone in den Händen.
Die Darstellung eines Engels über einer Grablegungsszene ist sehr ungewöhnlich.
Insofern denkt man bei der Suche nach der von Magdalena Sophia Rumpf verwendeten Malvorlage zunächst an Tintoretto, für den italienischen Maler Engel eine große Bedeutung besitzen. Und wirklich: Ein Kupferstich von Jacob Matham nach Jacopo Tintoretto, der 1594 gestochen wurde, bildet einen wesentlichen Teil der Malvorlage. Zumindest ist die Gruppe der Christus zum Grab tragenden Männer und der über ihnen schwebende Engel mit der Dornenkrone nach diesem oben halbrund abgeschlossenen Kupferstich gemalt worden. Auf dem Stich fehlen allerdings der Sarkophag und der vierte Mann trägt die Beine von Christus. Zwei vorangehende Frauen beleuchten mit Kerzen den Weg in das Felsengrab und vor dieser Gruppe wird die ohnmächtige Maria von zwei weiteren Frauen versorgt. Im Hintergrund sind noch die drei Kreuze auf Golgatha mit den beiden daran hängenden Schächern zu erkennen. Interessant ist, dass Teile dieses Kupferstiches auch in Freiberg/Sachsen (Epitaph 1676), Krieschow bei Cottbus (Altaraufsatz 1680) und Werenzhain (Altarbild nach 1717) kopiert wurden. Von Lucas Kilian (1579–1637) aus Augsburg existiert ein seitengespiegelter Nachstich aus der Zeit kurz nach 1600. Auch gibt es noch Stiche nach diesem Gemälde von Andrea Scacciati (1725–1771) aus Florenz und vom französischen Stecher Louis Croutelle (1765–1829).
Die trauernden Frauen auf dem Trebbuser Gemälde der Grablegung Christi wurden vom gleichnamigen Kupferstich des Matthäus Merian d. Ä. übernommen. Dabei entstand eine andere Zusammenstellung der Personen und die Magdalena mit der Salbungsdose wurde seitengespiegelt. Auch der die Beine von Christus ins Grab bettende Mann stammt vom Stich des Merian. Die Dresdner Malerin Rumpf hatte die Stiche vom Baseler Kupferstecher vorliegen, denn sie rezipierte auch das Abendmahl am Trebbuser Altaraufsatz nach einem Stich dieses durch die sog. Merian-Bibel bekannten Kupferstechers.

Tintoretto von 1594
Wie sieht nun aber die Vorlage aus, die Jacob Matham für seinen Kupferstich der Grabtragung Christi nutze? Jacob Matham (1571–1631) aus Haarlem war ein niederländischer Kupferstecher, Zeichner und Verleger. Bei der von ihm genutzten Vorlage handelte es sich um ein Leinwandgemälde von Tintoretto, der eigentlich Jacopo Robusti hieß und von 1518 bis 1594 in Venedig lebte. Unter sehr vielen Gemälden ist die Ausmalung der Scuola di San Rocco sein Hauptwerk, dessen Zyklus aus über 60 Einzelbildern besteht. Das 164 x 127,5 cm große Ölbild als Grundlage für den Stich Mathams entstand um 1563 bis 1565 für den Altar der Kapelle der Familie Dal Bosso in der venezianischen Kirche San Francesco della Vigna. Es wird heute in der National Gallery of Scotland in Edinburgh mit dem Titel „Christ Carried to he Tomb“ (Christus wird zum Grab getragen) gezeigt. Es hat dort die Inventar-Nummer NG 2419 und hängt im Saal 3 der Galerie zusammen mit anderen Gemälden aus Gotik und Renaissance. Nach einer Schenkung ist das Gemälde seit 1984 in Edinburgh.
Der Kupferstich zu dieser Grabtragung von Tintoretto ist eine buchstäbliche Kopie dieses Gemäldes. Dieser Stich schließt jedoch anders als das aufrecht rechteckige Gemälde oben rundbogig ab und zeigt in diesem Bogen einen Engel mit der Dornenkrone. Dem Gemälde von Tintoretto fehlt dieser Kreisbogen und am oberen Gemälderand sind nur die Füße dieses Engels sichtbar. Das sieht eigenartig aus, wird jedoch bei der Bildbetrachter erst nach Kenntnis des Kupferstiches bemerkt. Offenbar hat das Gemälde von Tintoretto den Engel gezeigt.
Aus irgendeinem Grund wurde beim Herausschneiden des Leinwandgemäldes aus dem Rahmen der obere Teil mit diesem Engel abgetrennt.
Dem heute in Edinburgh befindlichen Gemälde fehlt somit dieser Engel Tintorettos.
Da nun aber am Altaraufsatz in der Niederlausitzer Dorfkirche Trebbus neben dem Kupferstich von Matthäus Merian d. Ä. auch der von Jacob Matham mit dem oberen Bogen die Vorlage für das Grablegungsgemälde bildete, hat Magdalena Sophia Rumpf den schwebenden Tintoretto-Engel mitgemalt. Dieses hat nun zum Ergebnis, dass am Altar in Trebbus der Engel des italienischen Meisters zu sehen ist, während dieser auf dem originalen Gemälde in Edinburgh fehlt. Das Grablegungsgemälde in Trebbus hat damit eine unschätzbare Besonderheit. Im Jahre 1724 und damit etwa 160 Jahre nach Tintorettos Werk für eine Kirche in Venedig wurde dort eine Kopie seines Engels auf die Leinwand des oberen Altarbildes gemalt, welcher damit nun schon 300 Jahre über der Grablegung Christi am Altaraufsatz in der Niederlausitzer Dorfkirche Trebbus schwebt.
Weitere Gemälde von Jacopo Tintoretto, die über Kupferstichkopien in unsere Kirchen kamen, befinden sich im Emporenbilderzyklus der Dorfkirche Barenthin in der Prignitz (Beweinung Christi, 1716), in St. Stephani Helmstedt (Auferweckung des Lazarus, um 1670), am Altaraufsatz in St. Marien Lippstadt (Beweinung, 1663), in St. Jacob Rothenburg o.d.T. in Mittelfranken (Epitaph, 1627) und der Kreuzkirche Zittau (Auferstehung Christi, 1662).