Kunst überwindet Grenzen

Detlef Witt ist freiberuflicher Kunsthistoriker mit dem Schwerpunkt auf sakraler Kunst in Mecklenburg-Vorpommern.

Die Altarretabel in Porep und Nätebow-Bollewick

Dorfkirche Porep von Südwesten

Was macht eine Kunstlandschaft aus, und wo verlaufen deren Grenzen? Gibt es solche Grenzen zwischen Kunstlandschaften überhaupt? Die Verwaltungsstrukturen der Denkmalpflege sind an die Bundesländer gebunden; Denkmalinventare und der Dehio geben jeweils einen Überblick über die Kunstdenkmäler in einem Landkreis oder in einem Bundesland. Das verstellt mitunter den Blick dafür, dass nahe Verwandtes manchmal nur wenige Kilometer weiter, hinter einer politischen Landesgrenze, zu finden ist.

Ein Beispiel hierfür sind die spätmittelalterlichen Altarretabel in Porep, heute Ortsteil von Putlitz im Landkreis Prignitz in Brandenburg, und in Nätebow, Ortsteil von Bollewick, Amt Röbel-Müritz im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern. Die nahe Verwandtschaft dieser beiden und eines weiteren Retabels in der Wittstocker St. Marien-Kirche (dort der „obere Altar“, der hier jedoch ausgeblendet wird, da er im 19. Jahrhundert leider neu gefasst wurde) war bereits von der Kunsthistorikerin Edith Fründt (1927–2015) erkannt worden. Edith Fründt hatte 1954/55 zur Mecklenburgischen Plastik von 1400 bis zum Ausgang des Mittelalters promoviert und 1963 einen von Ulrich Frewel illustrierten Bildband zum Thema veröffentlicht (mit enthalten auch einige Altarretabel aus dem im DDR-Jargon zu Mecklenburg gerechneten Vorpommern). Auch Peter Knüvener wies 2011 in seiner umfassenden Arbeit zur spätmittelalterlichen Skulptur und Malerei in der Mark Brandenburg auf den Zusammenhang einer Gruppe qualitätvoller spätmittelalterlicher Altarretabel und Skulpturen aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in der Region zwischen Prignitz, Lewitz, Mecklenburgischer und Sternberger Seenplatte mit gemeinsamen konstruktiven und stilistischen Merkmalen hin.

Solche Merkmale sind „Kapellenschreine“ mit überwölbten polygonalen Nischen für die Skulpturen, äußere Kastenrahmen mit Standflügeln, ähnliche Formen des filigran geschnitzten Ranken- und Blattwerks der Schleierbretter und die Form der Predellen mit seitlichen „Haken“. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es an den Werken jedoch auch deutlich sichtbare Unterschiede in den „Handschriften“ einzelner Schnitzer mit ihren individuellen Eigenarten. Es verbietet sich demnach, hier einen „Meister“-Begriff zu verwenden, wie es in der älteren Kunstgeschichtsschreibung oft irreführend bei beobachteten Ähnlichkeiten postuliert wurde. Bisher ist es nicht gelungen, ein städtisches Produktionszentrum für diese mehr oder weniger zusammenhängende Retabelgruppe auszumachen.

War Edith Fründt noch der Meinung, die „Dreifigurenschreine“ wären eine Prignitzer bzw. brandenburgische Eigenart, die von dort nach Mecklenburg eingeführt wurde, lassen neuere, von Gordon Thalmann vorgenommene dendrochronologische Untersuchungen einiger Stücke auf eine Herkunft des Holzes und damit wohl auch auf die Herstellung im zentralen Mecklenburg, südlich von Rostock um Bützow und Güstrow, vermuten. Hier könnten sich im frühen 16. Jahrhundert Maler und Bildschnitzer angesiedelt haben, die Ausstattungen für die kleineren Städte der Region und für Dorf- und Klosterkirchen des weiteren Umlandes schufen. Die nächsten größeren Produktionszentren im Norden waren neben Rostock Wismar, Lübeck und Lüneburg und weiter im Westen Hamburg. Im südlichen Mecklenburg spielte Parchim als „Vorderstadt“ eine Rolle als Handels- und Handwerkszentrum für die Region an der Elde.

Originale Bemalung des Gesichts des heiligen Dionysius von Paris im Poreper Retabel. Die drastische Malerei regt zum Mitleiden mit dem Märtyrer an, dessen Schädelkalotte hier abgeschlagen ist. Nach einer vom Pariser Klerus vertretenen Version der Dionysius-Legende verfehlte der Henker den Hals des Bischofs und die Kalotte verblieb im Besitz der Pariser Kathedrale, während die Grabeskirche St. Denis sich im Besitz des ganzen Schädels des Märtyrers meinte. Auf Grund des Martyriums wurde Dionysius als Nothelfer
gegen Kopfschmerzen angerufen. Die mittelalterliche Fassung des Gesichts hat die Qualität eines Gemäldes. Bemerkenswert ist z. B. die Dunkelheit des rasierten Kinns.

Sicherlich gab es durch Gesellenwanderungen einen regen Austausch zwischen den in diesen Städten ansässigen Werkstätten. Man darf die Weiträumigkeit des Austausches durch Handwerkerwanderungen jedoch keinesfalls unterschätzen. Im späteren 16. Jahrhundert, für das die Schriftquellen mehr gesicherte Informationen liefern, lassen sich beispielsweise Maler und Bildhauer aus den Niederlanden und aus Sachsen an den mecklenburgischen Höfen greifen. Als sicher dürfen in der Kunst um 1500 im südlichen Ostseeraum auch süddeutsche Einflüsse gelten. Namen wie Veit Stoß und Tilman Riemenschneider stehen für die weite Verbreitung von Stilphänomenen in der spätgotischen Skulptur. Auch spielten druckgraphische Vorlagen ab dem späten 15. Jahrhundert eine zunehmende Rolle.

Was die Retabel in Porep und Bollewick-Nätebow (der Ortsteil Nätebow mit der Kirche ist später im Nachbardorf Bollewick aufgegangen, nur die Kirche erinnert noch an den einstmals selbstständigen Ort und dessen Namen) so besonders und dadurch auch besonders gut vergleichbar macht, ist die weitgehend erhaltene, kostbare originale mittelalterliche Fassung. Zahllose mittelalterliche Bildwerke wurden im 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein entweder mehr schlecht als recht von Kirchenmalern neu bemalt und vergoldet oder aber – vor allem im 19. Jahrhundert – bis aufs bloße Holz abgelaugt. Es ist ein Jammer, wie wenige mittelalterliche Originalfassungen in Mecklenburg bis heute erhalten blieben. Was unwiederbringlich verloren ging, lässt sich insbesondere an dem Poreper Retabel erahnen, dessen mittelalterliche Fassung erst jüngst aufs Neue fachgerecht gereinigt und konserviert werden konnte.

Es handelt sich bei beiden Retabeln um Dreifigurenschreine. In Porep nimmt die zentrale Position im Mittelschrein die Skulptur der Anna selbdritt ein, flankiert links vom heiligen Bischof Dionysius und rechts vom heiligen Diakon Laurentius. In den zweizonig unterteilten Flügeln des Wandelaltars stehen innen jeweils eine heilige Jungfrau und außen ein Apostel bzw. männlicher Heiliger mit ihren persönlichen Attributen. Die bemalte Tafel der Predella zeigt vor blauem Grund ein für Predellen typisches Figurenprogramm: in der Mitte Christus mit der Weltenkugel und ihm zu Seiten die vier lateinischen Kirchenväter jeweils in Halbfigur – innen Papst Gregor und Hieronymus in Kardinalstracht, außen die Bischöfe Augustinus und Ambrosius im Ornat. Die Malerei auf dem unteren Drittel der Tafel ist stark beschädigt, im oberen Bereich wurden Fehlstellen behutsam retuschiert. Schließt man die Kastenflügel, werden gut erhaltene Tafelmalereien sichtbar: innen, auf den Flügelrückseiten, die Verkündigung an Maria mit dem Erzengel Gabriel links und Maria rechts, und auf den beiden Standflügeln links St. Christophorus mit dem Christusknaben auf der Schulter und rechts der heilige Georg in voller Rüstung mit einer rot-weiß gestreiften Kreuzesfahne über einem sich am Boden windenden Drachen stehend.

Die Tafelmalereien sind in Porep sehr viel besser erhalten als beim „Schwesterretabel“ im etwa vierzig Kilometer entfernten Nätebow. Dort gibt es zahlreiche blasenartige Abplatzungen der Malschicht, unter denen stellenweise eine schwarze Pinselvorzeichnung auf dem Kreidegrund zum Vorschein kommt. Außerdem lassen sich die Kastenflügel mit den Malereien auf den Rückseiten in Nätebow nicht mehr bewegen, und die Malflügel wurden wohl im 20. Jahrhundert falsch montiert. Der Restaurierungsbedarf am Nätebower Retabel ist groß. Vor allem betrifft das die reich differenzierte, weitgehend originale Fassung der Gewänder der Skulpturen, die durch partielle vergilbte Übermalungen und Verschmutzung unansehnlich geworden ist. Mit verschiedenen Werkzeugen wurden vor dem Vergolden Muster in den Kreidegrund graviert. Die Granatapfelmotive der vergoldeten Hintergründe bekamen durch eine Tremolierung der Negativflächen eine plastische Wirkung. So imitierten die Künstler seinerzeit sehr geschätzte Goldbrokatstoffe. Es kamen Punzen und wohl auch Zahnwalzen für die Strukturierung zum Einsatz. Außerdem gibt es in Sgraffito-Technik aus der Bemalung über Metallauflagen herausradierte Muster, wie sie häufig auch bei Antwerpener Retabeln der Zeit um 1520 zu finden sind, und mit Lasurfarben über Metallauflagen gemalte Granatapfel-Ornamente und Buchstabenborten.

Die vielfältigen verwendeten Fassungstechniken lassen sich bei beiden Werken beobachten. Auch die Details der Tafelmalerei lassen auf denselben Maler in Porep und Nätebow schließen.

Kristin Kausland vom Kulturerbe-Institut in Oslo wies außerdem auf die Parallelen der aufgemalten Blütenmotive zum Rosenkranzretabel aus dem Lübecker Heiligen-Geist-Hospital im dortigen St. Annen-Museum hin. Der Herstellungsort dieses sehr prächtigen Retabels aus der Zeit um 1525 ist bislang nicht geklärt. Hier wären weitere vergleichende kunsttechnologische Untersuchungen wünschenswert.

Während die Schreinkonstruktion, die Skulpturenfassung und die Tafelmalerei in Nätebow und Porep auf eine gemeinsame Werkstatt schließen lassen, ist die Drapierung der Gewänder der geschnitzten Figuren in Nätebow expressiver. Große schwungvolle Stoffbahnen lösen sich besonders bei den größeren Figuren im Mittelschrein stärker von den Körpern. Maria zur Seite stehen links Johannes der Täufer und rechts Johannes der Evangelist. Leider wurden die ursprünglich blauen Innenfutter der Gewänder in späterer Zeit gelbgrau übermalt, so dass die Klarheit des Kontrasts zu den glanzvergoldeten Außenseiten der Gewänder verloren ging. Hinzu kommt ein abblätternder vergilbter Überzug über den stark beschädigten hellen Inkarnaten der Figuren.

Rekonstruktion (Fotomontage) des Altarretabels in Nätebow (Bollewick) mit dem barocken Aufsatz von 1687 mit einem Auferstehungsgemälde.
Der Aufsatz wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt entfernt und hängt heute über dem Südportal in der Kirche. Die fehlenden geschnitzten Schleierbretter in den Flügeln sind in der Fotomontage nach den Schleierbrettern des Poreper Retabels virtuell ergänzt. Die virtuelle Rekonstruktion soll auch als Anregung für eine zukünftige Restaurierung des Retabels dienen.

Es bleibt zu hoffen, dass auch das beschädigte und heute in seiner Wirkung beeinträchtigte Retabel in Bollewick-Nätebow in naher Zukunft restauriert werden kann. Anzustreben wäre dabei eine Freilegung der blauen Innenfutter der Gewänder, die den Skulpturen ihre ursprüngliche Struktur und Brillanz wiedergeben würde. Eine bewegliche Montierung der Flügel in ihrer früheren Position würde das Werk wieder in allen Wandlungen erlebbar machen. Auch die Wiederanbringung eines derzeit funktionslos über dem Südeingang hängenden barocken Aufsatzes mit einem Auferstehungsgemälde wäre wünschenswert (vgl. die Rekonstruktion in der Fotomontage). Dieser Aufsatz gehört zu einer Umgestaltungsphase von 1687, bei der auch die Predella mit einem Abendmahlsgemälde und den Wappen der seinerzeitigen Patronatsfamilie, dem kurfürstlich-brandenburgischen Rittmeister Caspar Christoff von Langermann und seiner Gemahlin Eleonora Margaretha, geborene von Schmieden neu bemalt wurde. Als Vorlage für das Abendmahlsgemälde konnte Rudolf Bönisch einen Ausschnitt aus einem von Jacob de Gheyn (II) verlegten Kupferstich (1596/98) Zacharias Dolendos nach Karel van Mander nachweisen.

DIE GRAMBOWS ALS STIFTER

Was das Nätebower Retabel aber zu etwas ganz Besonderem macht, sind Wappen und Inschrift auf dem Flügel mit der Darstellung des heiligen Bartholomäus. Unter dem Grambowschen Wappen mit einem aus dem Hals blutenden Eberkopf hängt dort eine gemalte Tafel mit dem Namen des Stifters Daniel Prichnis (Prignitz) und der Jahreszahl 1522. Die Grambows führten den Beinamen „genannt Prignitz“ und lassen sich bis ins 17. Jahrhundert als Kirchenpatrone in Nätebow nachweisen. Stifterinschriften mit festen Datierungen sind bei mittelalterlichen Retabeln selten.

Vorheriger Beitrag
Copia

Siegmund Bärensprung wurde am 24. Mai 1660 in Zwickau geboren. Nach Stationen als Feldprediger und Pastor in Halle an der Saale übernahm er 1705 das Amt des Propstes (damals in etwa vergleichbar mit der Tätigkeit eines heutigen Superintendenten) in Angermünde, das er 34 Jahre lang ausübte.

Nächster Beitrag
Spätmittelalterliche „Kirchentresore“

Dem aufmerksamen Kirchenbesucher werden schon einmal diese interessanten Wand- und Mauernischen mit Holzauskleidung und verschließbaren, vereinzelt auch vergitterten Türchen im Chor- sowie Altarbereich von mittelalterlichen Sakralbauten aufgefallen sein.