Ein faszinierendes Kunstprojekt

Gisela Donath ist Kirchenpädagogin.

Das Tuch der Heimaten

Der Begriff „Heimat“ wird seit einiger Zeit wieder stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit gebracht, zuweilen auch kontrovers diskutiert. Nun gar im Plural? Ein bewegendes Kunstprojekt entdeckte ich im Sommer 2020 in der Kirche Altranft im Oderbruch, es gehörte zum Programm „Heimat zwischen Krieg und Frieden“ des benachbarten Oderlandmuseums.

Ein riesiges Tuch schwebt von der Orgelempore, die Künstlerin Antje Scholz hat es zusammengesetzt aus vielen Teilen, bestickt mit jeweils einer Jahreszahl und Ortsangabe. Die ganz unterschiedlichen Stoffstücke – von einer Bluse, einem Turnbeutel, von Bett- oder Tischdecke – fügen sich zu einem Ganzen. „Findelkind 1960“ steht auf weißem Batist. Die Herkunft der Besitzer verweist auf verlassene Heimat und Neubeginn, Verwurzeltsein seit langer Zeit, Abschied und Ankunft, Verlust und neue Gemeinschaft. Es sind Erzählungen, die mehrere Generationen verbinden, wie es für das Land an der Oder prägend war und blieb.

Die leere Kirche ist gefüllt mit dem Schicksal vieler Menschen, das farbenfrohe Tuch verbindet plötzlich Zeiten und Räume. Assoziationen drängen sich auf, Farben und Stoffmuster sprechen beim Betrachter eigene Gefühle an. Stoff ist ein warmes Material, Tuch etwas Schützendes. Allein die knappe Information von Ort und Jahr bringt die erinnerten Personen hinein in den Kirchenraum, ohne ihre Namen zu nennen sind sie präsent. „Frankreich 1765“– also vor der Französischen Revolution, nach dem Siebenjährigen Krieg? Daneben: „Zwickau 2003“ – willkommen im 21. Jahrhundert! „Ostpreußen 1950“ – So spät?

Die optische Wahrnehmung begleitete eine Audiocollage von Julius Breitenfeld, in der Betroffene ihre Flucht- und Heimaterlebnisse schildern: zwei älteren Frauen, die vor fast 80 Jahren als Kinder – die eine aus der Ukraine, die andere aus Weißrussland – vertrieben wurden, und zwei Familienväter, die erst kürzlich aus Tschetschenien bzw. Syrien hier Zuflucht gefunden haben.

Die Ausstellung endete im Herbst 2020, seitdem suchte das Tuch eine neue Herberge. Kirchen sind Orte der Erinnerung, der gefeierten Gemeinschaft und des Neubeginns. Viele Dorfkirchen Brandenburgs laden ein zu Einkehr und Besinnung, sie strahlen Ruhe und Geborgenheit aus, erwartungsvoll drücken die Besucher die Türklinke. Es sind nicht allein altehrwürdige Bildwerke, die der reizüberfluteten Seele Raum zum Nachdenken bieten. Typisch sind schlichte, an vielen Orte karg zu nennende Raumkonzepte, die sehr wohl lebendig werden im Zusammenspiel von Mensch und Raum, Wort und Musik: ihre Mauern sind wie eine leere Hülle, die Vorüberziehende zur Selbstreflexion anregen. Was sagen uns die mühsam zu entziffernden Inschriften auf altertümlichen Grabsteinen? Sie bringen menschliche Schicksale zur Sprache.

Auf dem Tuch der Heimaten sind es die Lebenden, deren Wege sich hier in dieser Landschaft verbinden. Eine geöffnete Dorfkirche im Oderland könnte eine sinnstiftende Bereicherung erfahren, ohne Worte, selbsterklärend, wenn sie das Tuch ausstellen würde. Denn für die Gemeinden, die ihre Kirchen öffnen, stellt sich immer wieder die Frage: Was kann und muss dem Fremden vermittelt werden? Regionalgeschichte, Frömmigkeitsverständnis? Falls niemand aus dem Dorf für eine Begegnung zur Stelle ist, behilft man sich mit schriftlichen Kurzinformationen. Und die Bewohner? Nur wenige gehören der Kirchgemeinde an, die meisten „fremdeln“ , sind aber zur Stelle, wenn es um Frühjahrsputz und Engagement für Veranstaltungen geht. Die Kirche gehört ins Dorf, darüber besteht Einigkeit. Die Kirche als Bau ist identitätsstiftend, hier ist Heimat.

Die Bevölkerungsstruktur in den Landgemeinden hat sich in den vergangenen Jahrzehnten überall rasant verändert, mancherorts ist vom Sterben der Dörfer die Rede. Es kommen aber auch Neue hinzu, auf der Suche nach Wohnraum im naturnahen Umfeld zieht es Familien aufs Land, Geflüchtete mit ihren Kindern bringen frischen Wind in den Ort.

Ein großer Erfolg blieb dem Tuch der Heimaten versagt, denn die Pandemie beschränkte die öffentliche Aufmerksamkeit für dieses wie für alle kulturellen Angebote. Immerhin hatte es die Künstlerin noch einmal von September 2021 bis April 2022 in der Kirche Gorgast installiert und weitere bestickte Tücher und Zitate hinzugefügt. Diese Erweiterung konnte sie anlässlich der „Kunst-Loose-Tage 2022“, Tage der „offenen Ateliers“ im Oderbruch, für ca. 550 Besucher präsentieren.

Inzwischen hat sich das „Tuch der Heimaten“ wieder erweitert und wird zur Veranstaltung „Bad Freienwalde ist bunt“ dort in der Nikolaikirche ausgestellt werden.

Wünschen wir dem „Tuch der Heimaten“ eine freundliche neue Herberge im Sommer 2023.

IM GESRPÄCH

Antje Scholz hat in Schneeberg Textilkunst studiert. Sie lebt und arbeitet seit 1990 im Oderbruch. In ihrer Umgebung findet sie die Arbeitsmaterialien mit denen sie ihre Kunst gestaltet. Dazu gehören auch Pflanzen, Holz, Metallstücke, Draht und vieles mehr.

„Ich sammle die Stoffe von den Oderbrüchern, weil sie persönlich sind […] weil Textil eher weiblich ist und mir das liegt, ich sticke, nicht nur weil es mein Metier ist, sondern weil ich die Leute mit der Mühe des Stickens würdigen möchte, und so kann ich Zeit einfangen. So viele Gespräche habe ich im Ohr und Briefe liegen verteilt. Gut wäre, dieses Projekt weiterzuführen, von Kirche zu Kirche größer werden zu lassen. Weil die Menschen sehr interessant sind und bisher nur einer sagte: Ich bin Oderbrücher, egal wo mein Großvater herkommt, fertig. Aber auch dieser Satz ist wichtig.

Ansonsten ist es die Arbeit oder Liebe, die herführte, wie der Krieg und die Vertreibung, die Not – gegensätzlicher kann es nicht sein. Und sie haben hier einen Ort gefunden, sich einzurichten […] vielleicht weil Platz war, auch für die Last und die Sorge um die alte Heimat. Ein gutes Miteinander, sagen viele der Zugezogenen, hier kann man bleiben, […] Offenheit der Anderen verselbständigt sich […] Man spürt ein Miteinander, […] und die Achtung und der Stolz vor den Ursprüngen sind da.“

Zur Kirche
Vorheriger Beitrag
Kulturerbe Oderbruch

Seit 2011 vergibt die Europäische Union das Europäische Kulturerbe-Siegel an Stätten, die symbolisch für die europäische Einigung sowie für die Ideen Europas stehen. Unter dem Motto: „Oderbruch – Menschen machen Landschaft“ erhielt im vergangenen Jahr eine Region diese Auszeichnung, die in besonderer Weise durch eine vom Menschen geformte Natur und wechselvolle Ereignisse der europäischen Geschichte geprägt ist. Inzwischen tragen europaweit sechzig Stätten das Siegel, davon sechs in Deutschland, wobei mit dem Oderbruch erstmals ein ganzes Gebiet prämiert wurde.

Nächster Beitrag
Was Fontane nicht kannte

n der Kirche des havelländischen Dorfes Senzke befinden sich wie in den Kirchen Milow und in Schmetzdorf zahlreiche Gemälde biblischer Personen, Geschichten, Engel und Allianzwappen.