Der neue Sound der Stadt
Thomas Klatt ist Journalist und arbeitete viele Jahre für die Lausitzer Rundschau und Märkische Oderzeitung. Seit seinem Ruhestand schreibt er überwiegend über Kunst, Theater und Geschichte. Er lebt und arbeitet in Cottbus.
Die Cottbuser Kirche St. Nikolai erhält ein neues Geläut
Vorsicht! Hier fehlt im Moment das Geländer. Passen Sie auf!“ Pfarrer Uwe Weise macht eine klare Ansage. Er führt seinen Besucher bis hinauf in die Glockenstube von St. Nikolai, der größten Kirche der Niederlausitz. Und er hat recht: Der Weg nach oben, wo die zwei alten Glocken hängen und die zwei neuen auf ihre Installation warten, ist steil und muss mit Vorsicht gegangen werden. Wenn eine Kirche neue Glocken bekommt, ist das für jeden Pfarrer ohne Zweifel ein Höhepunkt seines Berufslebens. Für den promovierten Kirchenmann Weise ist es sogar schon das zweite Mal, dass eines seiner Gotteshäuser neue Glocken erhält. Das erste Mal geschah das im Jahre 2011, als er Pfarrer der kleinen evangelischen Kirche in Neuzelle war. Die steht schon immer ein wenig im Schatten der hochbedeutenden barocken Klosteranlage dort und wird kaum wahrgenommen. „Aber da habe ich schon ein wenig üben können“, sagt der Pfarrer, dem man die Freude an seinem aktuellen Projekt ansieht.
Die Cottbuser Glocken sind eng mit der Geschichte der Stadt verbunden. Die ersten Hinweise auf das Geläut gibt es nach dem 30-jährigen Krieg und der verheerenden Pest in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Franz Sebastian Voillard, ein aus Frankreich nach Preußen immigrierter Meister, gießt 1671 für die Stadt Cottbus und die Gemeinde mehrere Glocken, drei davon für die Oberkirche. Die kleinste von ihnen geht als Weihgeschenk im Jahre 1912 an die gerade errichtete Luther-Kirche der Stadt, ein Jugendstilbau, der sich in seiner Architektur an das berühmte Theater der Stadt (heute Staatstheater) anlehnt.
In jenen Jahren erfährt das Geläut der Oberkirche eine grundlegende Veränderung. Nach dem Neuguss zweier Glocken durch Franz Schilling (Apolda) entsteht ein Vierergeläut. Gleichzeitig wird der alte Holzglockenstuhl durch einen genieteten Stahlglockenstuhl ersetzt. Doch eine Technik, die für den Pariser Eiffelturm richtig ist, muss nicht zwangsläufig für Kirchen gut sein. „Aus heutiger Sicht war das ein Fehler“, wie Pfarre Uwe Weise weiß. Denn so entstand ein anderer Läutewinkel, die Statik belastete den Glockenturm und der Druck auf die Glockenkronen war immens stark. Die nächste Zäsur kommt bald: Im Ersten Weltkrieg müssen die Glocken zu Kriegszwecken abgeliefert werden. Nur Glocken mit besonderem wissenschaftlichen, geschichtlichen oder Kunstwert verblieben in den Gemeinden oder wurden für Läutezwecke zurückgestellt.
Und im Zweiten Weltkrieg werden die drei Glocken ebenfalls zu Rüstungszwecken eingezogen und auf einem Glocken-Friedhof gelagert. Doch St. Nikolai hat Glück. Im Jahre 1948 finden sie wieder nach Hause zurück. Es entsteht ein Dreier-Geläut mit angepasstem Stahlglockenstuhl, das lange Zeit ihren Dienst tut. Im Jahre 2017 dann der Schock: Bei der kleinen Voillard-Glocke werden Risse sichtbar. Untersuchungen ergeben, dass diese Glockenstuhlkonstruktion den alten Glocken langfristig schaden würde. Für das Schwingungsgutachten, das Scannen der Glocke, um das Gewicht zu ermitteln, und die weitere Analyse der bautechnischen Voraussetzungen findet Uwe Weise gemeinsam mit der Gemeinde und der Stadt hervorragende Fachleute, die in der Lage sind, dieses aufwendige Projekt der Erneuerung umzusetzen. Auch wird schnell klar: „Wir müssen beim Glockenstuhl zurück zum Holz“, so Weise.
Die Frage, wie der neue Glockenstuhl aussehen soll und wer ihn bauen würde, ist bald beantwortet: Andreas Müller, ein Meister aus dem Erzgebirge gilt als ausgewiesener Spezialist. Er baute zum Beispiel den großen Glockenstuhl in St. Marien in Frankfurt (Oder). Vieles ist nun zu beachten: Das Eichenholz, das die Glocken trägt, ist einer strengen Auswahl unterzogen. So darf es kein Kernholz sein. Und die Schall-Luken werden mit einer Gaze versehen, die Tauben abhält. Regen und Schnee kommen hinein, laufen aber mithilfe einer besonderen Konstruktion ab und greifen die Bronze nicht an.
Wenn es um den Qualitätsguss neuer Glocken geht, kommen in Europa im Wesentlichen nur zwei Hersteller in Frage, so Uwe Weise: Die sitzen in Den Haag und Innsbruck. Lauchhammer habe es auch mal gekonnt, habe aber nicht mehr das Knowhow dazu.
Der Auftrag für den Guss zweier neuer Bronze-Glocken geht an die Firma Grassmayr in Innsbruck, Inhaber einer Werkstatt mit jahrhundertelanger Erfahrung. Neben vielen bekannten Glocken wurde dort auch die bisher größte der Welt – 26 Tonnen für eine Kirche in Bukarest – gegossen. Aber warum zwei und nicht eine, wenn schon drei vorhanden sind, ist die Frage an Uwe Weise. „Unsere sogenannte Lutherglocke wirkt im Klangbild des derzeitigen Geläuts disparat. Wir legen sie nun still und bieten sie über die Glockenbörse anderen Kirchen an.“ Nicht mehr drei nebeneinander, sondern vier Glocken im Zweierverbund übereinander, werden es künftig sein. Auch die Läuterichtung von Ost-West nach Nord-Süd verändere sich durch die neue Konstruktion. Wenn alles komplett ist, haben wir über der Stadt Cottbus einen ganz anderen Klang, der neue „Sound of the City“, freut sich Uwe Weise.
Am 21. Oktober vergangenen Jahres war es so weit. Zwei neue Glocken wurden im Beisein einer Reisegruppe aus Cottbus in Innsbruck gegossen. Und schon bald kehrten sie zurück. Am Nikolaustag waren alle vier Glocken in einer Schaufahrt über sechs Stationen durch Cottbus zu sehen. Ab 17 Uhr folgte ein Gottesdienst zum Willkommen der alten, restaurierten und der beiden neu gegossenen Glocken.
Sie trägt das Symbol des Nagelkreuzes.
Noch nie ist wohl das Thema der Glocken in Cottbus so präsent gewesen wie in jenen Wochen. Viele Menschen spüren, dass ihr Leben mit der Geschichte der Glocken verbunden ist – auch wenn sie nicht gläubig sind. Kirchenglocken sind auch vielen Nichtchristen eine Konstante in einer verunsicherten Welt.
Das erste Mal war das Geläut offiziell am 4. März zum Acht-Uhr-Gottesdienst zu hören. Einen Tag zuvor gab es noch für alle Cottbuser eine Klangprobe mit anschließendem Dankgottesdienst. Was viele Cottbuser bisher nicht wissen: Bei Feuer und Krieg werden die Glocken anders, „alarmierender“ geläutet. Möge das nie geschehen, sagt Pfarrer Uwe Weise.
Die Gebetsglocke spiegelt in besonderem Maße wider, dass die Oberkirche seit dem Februar 2015, 70 Jahre nach der Bombardierung der Stadt, zur internationalen Nagelkreuz- und Versöhnungsgemeinschaft von Coventry gehört. Nach allen vier Himmelsrichtungen ist das Nagelkreuz mit dem Vergebungsruf „Vater vergib!“ aufgebracht. Zu lesen ist der Ruf in Deutsch, Polnisch, Englisch und Wendisch, der Sprache der Niederlausitzer Sorben. Das Wort Gottes, aber auch der Wunsch vieler Menschen finden hier zueinander: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat …“.
ZUR GESCHICHTE
Die Kirche, erbaut wurde sie im Stil der norddeutschen Backsteingotik, gibt es bereits seit dem 15. Jahrhundert. Doch schon seit dem 12. Jahrhundert gab es an dieser Stelle ein Gotteshaus, das jedoch sehr viel kleiner war. Seit der Reformation ist St. Nikolai eine evangelische Kirche. Von der damaligen Ausstattung ist jedoch nur wenig erhalten geblieben. Ein Stadtbrand im Jahre 1600 richtete auch in der Kirche großen Schaden an. Der elf Meter hohe Sandsteinaltar, eine Arbeit aus der Spätrenaissance im Übergang zum Barock, wurde nach dem Brand im Jahre 1662 errichtet.
Im April 1945 brannte die Kirche in ihrem Inneren aus und das Mittelschiff stürzte ein. Der Altar, geschützt durch eine Brandmauer, konnte jedoch erhalten werden. Der Wiederaufbau zur Herstellung der mittelalterlichen Architektur dauerte bis in das Jahr 1970. Taufstein, Kanzel und Orgelprospekt wurden dabei aus anderen Kirchen aufgenommen und fanden hier eine neue Heimstatt. Die Kirchenbänke sind durch Stühle ersetzt worden, die je nach Bedarf variabel gestellt werden können. Bei den meisten Cottbusern ist das größte Gotteshaus der Niederlausitz zumeist unter dem Begriff Oberkirche bekannt. Bei einer Turmbesteigung hat der Besucher einen weiten Blick über die Stadt und über die Lausitz.