von Thomas Klatt

Sommerfrische auf dem Land

Heinrich von Kleists Kirchenbank in der Lausitz

Thomas Klatt ist freier Journalist in Cottbus.

Dorfkirche Gulben; Fotos: Thomas Klatt 

Er war oft hier gewesen. Da war er noch ein Kind, etwa sieben, acht Jahre alt. So ganz genau kann man es wohl nicht mehr sagen. Der junge Bernd Heinrich von Kleist verbrachte im Lausitzer Dorf Gulben mehrmals seine Sommerfrische. Unbeschwerte Kinderferien auf dem Land, würde es vielleicht heute heißen. Das Dorf Gulben, wenige Kilometer von Cottbus entfernt, eignete sich gut dafür. Es gab ein Gut, ein Gutshaus mit Park und es gab viel Natur. Und bis heute steht da diese kleine Kirche, in der er mit seinen Großeltern regelmäßig beim Gottesdienst gesehen wurde. 

Doch was macht einer der größten deutschsprachigen Dichter (1777 – 1811) in diesem Ort der Lausitzer Bescheidenheit? Reiste er doch aus Frankfurt (Oder) an, damals eine Stadt mit selbstbewusster Bürgerschaft, die mit der Kirche St. Marien eines der größten Hauptschiffe des Nordens vorzuweisen hatte, und mit einer bedeutenden Universität, die der anderer deutscher Städte in nichts nachstand. Und kommen die Kleists nicht aus einem alten Pommerschen Adelsgeschlecht? Zahlreiche höhere preußische Offiziere, Gelehrte und Beamte entstammten dieser Familie und dienten diversen Herren, Fürsten und Königen. 

Kleists Vater Joachim Friedrich von Kleist war in erster Ehe liiert mit Caroline von Wulffen. Sie stammte aus Steinhöfel (heute Landkreis Oder-Spree). Doch stirbt sie im Mai 1774 und hinterlässt ihren Mann und zwei Töchter. Der Vater heiratete 1775 in zweiter Ehe Juliane Ulrike von Pannwitz. Deren Vater war Erbherr auf Müschen, Babow und Gulben. Gemeinsam haben sie die Kinder Friederike, Auguste Katharina und: Heinrich. Es folgen die jüngeren Geschwister Leopold Friedrich und Juliane. 

Pfarrer Klaus Natho vor dem barocken Altaraufsatz

„Auch wenn wir darüber nicht sehr viele Details wissen“, sagt Pfarrer Klaus Natho, der Besuch des kleinen Kleist in der Gulbener Kirche lasse sich nachverfolgen, wenn auch manches nur in der mündlichen Überlieferung. „Hier hat er öfters gesessen“ weiß Pfarrer Natho, und weist auf die Gutsherrenbank. Sie steht noch heute als eines der am besten erhaltenen „Möbel“ in der Nähe des Altars. Der Zugang zur Bank erfolgt durch eine Seitentür. Die Gutsherren, Kleists sommerliche Gastfamilie, mussten nicht durch den Mittelgang und entzogen sich so der Beobachtung der Kirchgänger. Zumal die Kirche hauptsächlich von Gutsarbeitern und den „kleenen Leuten“, wie es in der Lausitz heißt, besucht wurde. Von der Bank aus hatte man jedoch einen guten Blick zur Kanzel und damit auf den Pfarrer. Kontrolle musste sein. Gutsherren sind misstrauisch. 

In dieser Bank verfolgte Heinrich von Kleist als Junge die Gottesdienste in der Gulbener Dorfkirche.

Kleist hatte einen guten Draht zu seiner Tante Auguste Helene von Massow, die ebenfalls im Gutshaus wohnte. Die beiden verstanden sich gut, so ist es überliefert. Auch versorgte sie den immer klammen Kleist mit Geld. Man führte liebevolle und herzliche Gespräche. Kleist bleibt ihr bis zu seinem Freitod im Jahre 1811 am Kleinen Wannsee, wo er sich und seine Begleiterin Henriette Vogel erschießt, verbunden. In einem Brief von 1797 aus Frankfurt am Main schreibt er an sie: „Nun, bestes Tantchen, ist auch meine ganze Erzählungs-Suade erschöpft, denn in diesen Augenblick fällt mir nichts bei, was ich Ihnen noch mitteilen könnte, und doch bin ich überzeugt noch vieles vergessen zu haben. Um Ihnen nun aber alles mitzuteilen, was mir und die jetzige Lage der Dinge anbetrifft, so werde ich immer fortfahren Ihnen meinen hiesigen Lebenswandel zu beschreiben. Mir verschafft das Beschäftigung und Vergnügen, und vielleicht ist dies Ihnen auch nicht ganz unangenehm …“.

Kleist endet mit dem Gruß: „gnädigstes Tantchen, Ihr gehorsamer Knecht Heinrich v. Kl.“.

Die Gutsherren von Gulben – die Pannwitzens wurden bald abgelöst von den Schönfeldts – waren bis zum Kriegsende 1945, in dessen Folge sie ihre jahrhundertealte Heimat verließen und gen Westen zogen, als sparsame Patronatsfamilie bekannt. „Hier wurde alles zwei Mal verwendet, mindestens“, weiß Natho. Jedes Brett hat hier mehrere Leben. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die Betbank der Gutsherren bis heute da steht. In größeren Kirchen gab es eine Gutsherrenloge, aus der man von oben über das Geschehen wacht. Hier beschränkte man sich auf eine Holzbank, auf der nur drei Menschen Platz finden. 

Ob in Kleists Kinderjahren schon seine spätere, selbstzerstörerische Lebensspur erkennbar war, ist nicht bekannt. Hätte man in diesen harmonischen Sommermonaten schon einwirken können auf diesen unruhigen Geist, der sich später nirgends zuhause fühlen würde und ein ewig Suchender blieb? Die Antwort bliebe Spekulation. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb ihn in seinem Essay als einen Mann „mit zu viel Leidenschaft, eine maßlose zügellose, ausschweifende, übertreiberische Leidenschaft des Gefühls, die beständig zum Exzess drängte und doch nie in Wort oder Tat durchbrechen konnte …“. Und der Revolutionsdichter Theodor Körner sprach bei der Nachricht von Kleists Freitod von einem „überspannten Wesen des Preußen“. Die Schriftstellerin Christa Wolf hatte in ihrem Buch „Kein Ort. Nirgends“ aus dem Jahre 1979 eine fiktive Begegnung Kleists mit der Dichterin Karoline von Günderrode zu Papier gebracht. Karoline und Heinrich, die später beide unabhängig voneinander den Freitod wählen, unternehmen ausgedehnte Spaziergänge und spotten über Goethe, den „Alten“ in Weimar, in dessen Werken es immer so harmonisch zuging. Über Kleist schreibt sie: „Ziellos, scheint es, zeichnet er die zerrissene Landkarte Europas mit seiner bizarren Spur. Wo ich nicht bin, da ist das Glück.“

In einem ganz reellen Fall findet Kleist Gefallen an Gulben. Er trifft in späteren Jahren auf den Pfarrer Johann Friedrich Fritze, mit dem er viele Gespräche führt. Jan Bjedrich Fryzo, wie er von den Niedersorben genannt wird, übersetzte als Erster das Alte Testament ins Wendische. Der Martin Luther der Sorben. Das war bereits 1791, und so trug er viel dazu bei, dass Sprache und Kultur der Niedersorben erhalten blieben. Und der Gottesdienst in eigener Sprache abgehalten werden konnte. 

Heute ist der Schlosspark, nur ein Steinwurf von der Kirche entfernt, verwildert. Seine frühere Pracht ist nur noch zu ahnen. Vom Gutshaus, in dem es eine Kleist-Kammer gab, künden nur noch spärliche Schutthaufen; der Keller war lange noch zugänglich, ein Spielparadies für Kinder, aber viel zu gefährlich. Bis zur Wende war das Gulbener Schloss Altersheim. Im Jahre 2010 wurde es endgültig abgerissen. Zwischen Kirche und Park findet sich eine verwunschene Kapelle, auch sie kaum zugänglich. Die Gräber auf dem kleinen Kirchhof lassen kaum erkennen, wer hier Geschichte gestaltete. Aber mit den Jahrhunderten hat sich Moos gebildet und die Schrift erhebt sich nun in fast wieder lesbarer Weise. Die Namen derer von Pannwitz, Schönfeldt und Kleist sind mühsam zu erkennen. 

Die Geschichte des Dorfes ist ebenso vielschichtig wie die der von Kleists und von Pannwitzens. Gehörte Gulben vor dem Wiener Kongress im Jahre 1815 zu Sachsen, ging es anschließend an Preußen. Doch von Glanz und Gloria sei hier nie viel zu sehen gewesen. Eher preußische Schlichtheit als sächsische Üppigkeit und Pracht, so Pfarrer Natho. Zu Ende des 19. Jahrhunderts weisen Dokumente das Dorf Gulben der Provinz Brandenburg zu, als Teil des Regierungs-Bezirkes Frankfurt, im Kreis Cottbus liegend. Jährlich besuchen Kleist-Kenner, Studenten und Literaturwissenschaftler die Kirche, die seit zweiundzwanzig Jahren zu Pfarrer Nathos Pfarrsprengel gehört und bestaunen die Kleist-Bank. Massentourismus ist das nicht. Darüber ist hier aber auch niemand böse.

Vorheriger Beitrag
Schatzkästlein im Verborgenen 

Malerisch liegt die kleine Kirche an einem großen Dorfteich, umgeben von stattlichen Vierseithöfen.

von Annegret Gerhmann

Nächster Beitrag
„Gottlob das Friedensfest ist da!“ 

Im Pfarramt Neuruppin ist das seltene Exemplar einer Friedenskrone von 1816 deponiert. Sie stammt aus der Dorfkirche Bechlin.

von Sylvia Müller-Pfeifruck