„Gott zur Ehre und der Kirche zur Zierde“
Erfahrungen beim Erfassen von Kunstgut in Mecklenburg und Vorpommern
Detlef Witt ist Kunsthistoriker mit dem Themenschwerpunkt sakrale Kunst. Gegenwärtig ist er mit der Inventarisation kirchlichen Kunstgutes in den Propsteien Stralsund und Parchim der Nordkirche beschäftigt.
Mecklenburg besitzt 580 Dorf- und 84 Stadtkirchen, Vorpommern 448 Kirchen, das macht zusammen über eintausendeinhundert, zumeist denkmalgeschützte, Sakralräume mit jeweils einzigartigen Ausstattungen. Die Dorfkirchen sind oft mit großem Abstand die ältesten Gebäude im Ort. Sie sind identitätsstiftende Wahrzeichen, die jedem offenstehen. Allein das Baumaterial – meist Feldsteine, handgestrichene Backsteine im Klosterformat oder Fachwerk – macht Geschichte fühlbar. Die Kirchen bieten einen besonderen Raum, in dem der Mensch aus dem Alltag heraustritt und umgeben ist von Bildern, die nicht selten Jahrhunderte alt sind und zur Zwiesprache einladen.
Die große Zahl der Kirchen bedeutet, dass es im Land ebenso viele Altäre, Kanzeln, Taufen, Gestühle, Antependien, Abendmahlsgeräte, Leuchter und Glocken gibt. Hinzu kommen Orgeln, Epitaphien, Emporen, Gemälde , Holzskulpturen, wie Triumphkreuzgruppen und Taufengel, Glas- und Wandmalereien, Opferstöcke, Kollektenschalen, Turmuhren, Beichtstühle, Grabplatten, Liednummerntafeln, Gefallenengedächtnistafeln und mehr. Manchmal steht in einer Ecke sogar noch ein nicht mehr genutzter, einhundert oder mehr Jahre alter gusseiserner Ofen, der längst museumswürdig ist. Alle diese Stücke werden systematisch erfasst. In vielen der Kirchen ist die Ausstattung über die Jahrhunderte gewachsen. Nicht selten besitzen die mittelalterlichen Kirchen auf dem Land reiche barocke Ausstattungen. Neben den Bauten aus dem Mittelalter und der Zeit des Barock finden wir eine Reihe von Kirchenneubauten aus dem 19. Jahrhundert mit einheitlichen Ausstattungen aus der Bauzeit. Raum und Ausstattung bilden dort eine untrennbare Einheit. Und nicht zu vergessen die wenigen, oft unter schwierigsten Bedingungen entstandenen Kirchenneubauten aus der DDR-Zeit – etwa die architektonisch sehr beachtenswerte Fischerkirche in Ahrenshoop von Hardt-Waltherr Hämer von 1950/51 oder das Gemeindezentrum im Neubaugebiet Knieper West in Stralsund von 1977.
Neben kunsthistorisch bedeutsamen Stücken stehen eher schlichte Gegenstände für den Gebrauch. Notzeiten lassen sich an den Ausstattungen ebenso ablesen wie wirtschaftliche und kulturelle Blütezeiten. „Gott zur Ehre und der Kirche zur Zierde“ – dieser Spruch findet sich nicht selten in Stiftungsinschriften. Oft waren es adlige Patronatsherren, die sich und ihren Familien im Zeitalter des Barock mit prachtvollen Kirchenausstattungen Denkmäler setzten. Inschriften und Ahnenproben sind eine Fundgrube für Heraldiker und Genealogen. Die Ausstattungen der Kirchen sind Zeugnis jahrhundertealter Handwerkskunst in der jeweiligen Region. Tischler, Bildhauer, Maler, Orgelbauer, Rot- und Zinngießer und Goldschmiede gaben hier ihr Bestes. Meist arbeiteten diese kunstfertigen Handwerksmeister in der nächstliegenden größeren Stadt. Durch die Erfassung des Gesamtbestandes des Kunstgutes lassen sich kleinräumige Kulturlandschaften mit ihren Besonderheiten differenzieren. Für die Insel Rügen und das „rügensche Festland“ lässt sich beispielsweise Stralsund als das maßgebende Zentrum von Kunst und Handwerk ausmachen. Nachweisbar ist das auch anhand der Beschauzeichen des Stralsunder Goldschmiedeamtes auf den silbernen Abendmahlsgeräten der Kirchen in dieser Region. Neben der persönlichen Marke des Meisters ist als Gütezeichen und Prüfmarke die Pfeilspitze des Stralsunder Wappens als Zeichen des Goldschmiedeamtes der Stadt auf den Stücken eingeprägt.
Bei der Inventarisierung des Kunstgutes sind die Kontakte zu Wissenschaftlern und ausgewiesenen Fachleuten auf Spezialgebieten unerlässlich. Stücke können so korrekt eingeschätzt werden, und der Austausch ist ein Beitrag, der die Forschung voranbringt. Bei der Identifizierung bislang unbekannter Goldschmiede-Marken konnte schon mehrfach Theoderich Hecker aus Jena helfen, der eine stetig wachsende Datenbank für alte deutsche Goldschmiedemarken aufgebaut hat. Fachleute gibt es auch für die Lesung, Bestimmung und Übersetzung alter Inschriften. Oft ist es schwierig, teilweise abgeblätterte, verblasste oder auf den Grabsteinen im Boden abgetretene Inschriften noch zu entziffern. Kompetente Ansprechpartner für solche Fälle finden sich mit Dr. Christine Magin und Jürgen Herold in der Arbeitsstelle Inschriften der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen am Historischen Institut der Universität Greifswald. Unverzichtbar für die Arbeit sind die von der Arbeitsstelle erarbeiteten Bände aus der Reihe „Die Deutschen Inschriften“. Nicht zuletzt kann durch die genaue Untersuchung der Objekte vor Ort manche Ergänzung oder Korrektur in der Literatur gemacht werden. Es gibt Stücke, die auf Kirchenböden oder in einem Schrank des Pfarrhauses der Forschung bislang entgangen waren. Auch Fehldatierungen bleiben bei der großen Materialfülle nicht aus.
So wie sich die Baudaten von Kirchen in den letzten Jahrzehnten vielerorts anhand bauhistorischer und dendrochronologischer Untersuchungen präzisieren ließen, gibt es durch Archivrecherchen, Restaurierungen und nicht zuletzt durch die Inventarisierung auch neue Erkenntnisse zu einzelnen Ausstattungsstücken. Zahlreiche Hinweise fanden bereits Eingang in die Neubearbeitung des Dehio Handbuches der deutschen Kunstdenkmäler für Mecklenburg-Vorpommern durch Barbara Rimpel 2016. Der aktuelle „Dehio“ für Mecklenburg-Vorpommern ist um mehrere Dutzend Seiten gegenüber der vorletzten Ausgabe aus dem Jahr 2000 angewachsen. Mit dem Wissen wächst auch der ideelle Wert der Stücke. Nur das, was an Wissen erforscht ist, kann auch weitergegeben und vermittelt werden. Die Geschichten um die Stücke sind vielfältig verwoben und werden umso spannender, je mehr wir darüber wissen. Die rasant zunehmende Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivbeständen verschafft Zugang zu Zusatzinformationen wie beispielsweise zu Leichenpredigten von durch Epitaphe in den Kirchen Geehrten. Zunehmend treten auch über Datenbanken recherchierbare druckgraphische Vorlagen für barocke Bilder in das Blickfeld der Forschung – siehe dazu die Veröffentlichungen von Rudolf Bönisch unter anderem in „Offene Kirchen“. Die Glaubensinhalte in den Bildern werfen allgemeingültige ethische und moralische Fragen auf. Berührende Bilder von Freude und Schmerz, Geburt und Tod sowie das Mahnen an die Vergänglichkeit können den Betrachter fesseln. Was wäre Weihnachten ohne die Bilder des Kindes in der Krippe, von dem ein Licht ausgeht, Ochs und Esel, Maria, Josef und den Hirten.
Diese Bildvorstellungen gehören zu unseren kulturellen Grundlagen. Für unsere Vorfahren waren die Bilder in den Kirchen wesentlich prägender als für uns, die wir mit einer täglichen Bilderflut konfrontiert sind. Ein Bild lange und immer wieder zu betrachten und sich darauf einzulassen, will gelernt sein. Viele biblische Bildthemen sind heute nicht mehr allgemeinverständlich. Man sieht Touristen, die sich in einer Kirche um ihre eigene Achse drehen und wieder hinausgehen. Gesehen und entdeckt haben sie nichts. „Man sieht nur das, was man weiß“, heißt es. Immer seltener ist ein Pastor vor Ort, der sich die Zeit nehmen kann, interessierte Besucher durch „seine“ Kirche zu führen, so wie man es von früher kennt. Je mehr Kirchengebäude die Pastoren und Pastorinnen zu betreuen haben, desto schwieriger wird es, das Wissen um die vielen Kunstgüter in den Gemeinden zu bewahren. Die Inventarisierung dient auch dazu, den Gemeinden ein Werkzeug für die Vermittlung in die Hand zu geben. Hier lässt sich noch einmal nachlesen, wenn es um Datierungen oder Künstler geht, Inschriften für den Laien schwer lesbar oder Bildthemen nicht mehr geläufig sind. Die Inventarisierung dient auch dem möglichst frühzeitigen Erkennen von Schäden, um rechtzeitig eingreifen zu können. Wenn Farbschollen der Fassung sich vom Grund lösen und drohen abzublättern, ist es höchste Zeit, zumindest für eine Notsicherung. Bei den starken Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen in den Kirchenräumen ist das leider gar nicht so selten. Auch die hohe Staubbelastung, besonders durch Bauarbeiten, erfordert eine regelmäßige Pflege der Kunstgegenstände. Gutgemeinte Reinigung durch Laien schadet häufig mehr, als dass sie nützt. Restaurierungen bieten manchmal die einmalige Chance, sonst nicht zugängliche Stellen zu sehen und fotografisch zu dokumentieren, vielleicht sogar eine versteckt angebrachte Signatur zu entdecken. Zu den schönsten Momenten gehört es, die „Wiederauferstehung“ einmal hoffnungslos verloren geglaubter Stücke hautnah mitzuerleben. So lagen der barocke Taufengel in der Dorfkirche von Groß Mohrdorf bei Stralsund und ein Pultengel in Lüssow bei Gützkow zerbrochen und vom Wurm zerfressen Jahrzehnte abgelegt in Ecken.
Teile fehlten oder waren völlig durch Anobien zerstört. Gerade die barocken Taufengel besitzen heute wieder eine große Popularität. In Brandenburg wurde der Gesamtbestand durch das Landesamt erfasst, und viele konnten im Zuge des Projektes „Menschen helfen Engeln“ restauriert und einige wieder in Dienst genommen werden. Für das Gebiet von Pommern hat Brigitte Becker-Carus in jahrelanger Arbeit das Material zu den Taufengeln zusammengetragen und publiziert. Dieses gewachsene öffentliche Interesse trug sicherlich mit dazu bei, dass sich Stifter fanden und Restauratoren und Bildhauer sich der beiden Engel annehmen konnten. Bei der Wiederherstellung der Barockausstattung in Groß Mohrdorf waren Studierende des Studiengangs Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut der Hochschule für Bildende Künste in Dresden beteiligt. Diese Zusammenarbeit hat sich schon während der akademischen Sommerschulen in der Dorfkirche in Landow auf Rügen bewährt. Die kleine Kirche ohne Gemeinde im Nordwesten der Insel, die in ihren Mauern Überreste einer mittelalterlichen Fachwerkkirche birgt, war zu DDR-Zeiten bereits aufgegeben und die Ausstattung ausgelagert worden. Die Wiederherstellung dauert an. Als Kultur- und Wegekirche ist sie heute Festspielort und steht Besuchern offen.
Nicht zuletzt dient die Inventarisierung des Kunstgutes auch der Wertermittlung im Schadensfall. Die Fotos sind wichtige Arbeitsgrundlage für die Restaurierung nach entstandenen Schäden an den Objekten, und sie dienen im Falle eines Diebstahls auch der Kripo zur Fahndung und zur sicheren Identifizierung von Diebesgut. Durch den Ausbau entsprechender Datenbanken und die Vernetzung im Internet wird es Dieben zunehmend schwer gemacht, gestohlene Kunstwerke zu verkaufen. Vergessen sind die gestohlenen Stücke nicht. Schmerzlich sind die Verluste der bei Einbrüchen in den letzten Jahren entwendeten Barockskulpturen von Jakob Freese in Prohn und eines Tauf- und Pultengels von Elias Kessler in Altenkirchen auf Rügen. Etwas länger zurück liegt der Diebstahl der spätmittelalterlichen Altarflügel aus der Dorfkirche in Lancken bei Parchim 1992. Alle diese Stücke sind fotografisch sehr gut dokumentiert und können sicher identifiziert werden. Das trifft auch auf die bis heute noch verschollenen Skulpturen des Prenzlauer Retabels in Brandenburg zu.