Endlich wieder das volle Geläut
Sieben Jahre Sanierung der Pilgerkirche St. Nikolai in Bad Wilsnack – (nur) erste Etappenziele sind erreicht
Anna Trapp ist Pfarrerin im Pfarrsprengel Bad Wilsnack. Christian Richter ist Vorsitzender des Gemeindekirchenrates. Jochen Purps ist Vorsitzender des Fördervereins Wunderblutkirche Bad Wilsnack e. V.
Wer zum ersten Mal nach Bad Wilsnack kommt, staunt über die riesige gotische Kirche in der Mitte des kleinen Städtchens mit ihren idyllischen Fachwerkhäusern aus der Biedermeierzeit. Wie eine große Glucke thront die alte Pilgerkirche über der Stadt, baulich ein Torso mit kurzem Langhaus und fehlender Turmanlage, architektonisch ein großartiges Zeugnis europäischer Backsteingotik aus einer bewegten Zeit.
Bad Wilsnack hat heute rund 2500 Einwohner, die Evangelische Kirchengemeinde 520 Mitglieder und der Förderverein Wunderblutkirche St. Nikolai Bad Wilsnack e. V. hat derzeit 85 Mitglieder. Es ist offensichtlich, dass die örtlichen Akteure mit der Baulast der Kirche finanziell chronisch überfordert sind. Es war deshalb ein Glücksfall, dass die Kirche im Jahr 2016 in das Denkmalpflegeprogramm für „National wertvolle Kulturdenkmäler“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) aufgenommen wurde. Sieben Jahre sind Fördermittel des Bundes, des Landes Brandenburg und von zahlreichen weiteren Fördergebern nach Bad Wilsnack geflossen. Mit der Bewilligung der Fördermittel wurde eine Entwicklung angestoßen, die nicht auf den Baukörper der Kirche beschränkt geblieben ist. 2022 endet formal die Förderung als „National bedeutendes Kulturdenkmal“ – was Anlass für eine kleine Bestandsaufnahme sein soll. Der Beitrag knüpft an den Aufsatz von Regine Hartkopf und Hartmut Kühne: „Pilgerkirche Bad Wilsnack – Perspektiven für einen Wallfahrtsort von europäischem Rang“ im Heft Offene Kirchen des Jahres 2016 an. Die Autoren haben dort ein Gesamtkonzept skizziert, das die Entwicklungspotenziale der Wunderblutkirche St. Nikolai mit ihrem Umfeld aufzeigt.
Während der sieben Jahre währenden Sanierungsphase wurden Meilensteine erreicht: Im gewaltigen Tragwerk des Daches wurde die schleichende Kippbewegung in westliche Richtung durch pfiffige Verstrebungen dauerhaft gestoppt. Für die Dachhaut wurde in Tüftelarbeit ein „neuer“ Biberziegel entwickelt, der technologisch, optisch und in der Herstellung überzeugt hat und wohl erstmalig in der Kirchengeschichte für eine einheitliche Dachhülle sorgt. Wie durch ein Wunder haben sich die neuen Ziegel an die Patina der alten Backsteinwände in kurzer Zeit angepasst. Das neue Material lenkt somit nicht von den im Dach ablesbaren Brüchen der Baugeschichte ab. Gleich zu Beginn der Arbeiten haben die Zimmermänner den großen Glockenstuhl stabilisiert. Die Kirchengemeinde musste dafür ein Jahr lang (!) auf das Glockengeläut verzichten und kann jetzt wieder das volle Geläut erklingen lassen. Auch die Maurer haben ein weithin sichtbares Zeichen der Sanierung geschaffen: Am Giebel des Südquerhauses sind seit 2021 wieder Stufen zu sehen. Die an keiner Stelle dokumentierte Form des ursprünglichen Staffelgiebels wurde durch die beauftrage Arbeitsgemeinschaft Hartkopf Seemann im guten fachlichen Austausch mit allen Beteiligten rekonstruiert. Nur Insider können jedoch ein anderes Detail entdecken: Die enorm große Fensterfläche am nördlichen Querhaus ist durch Stahlstreben gesichert worden. Die Fensterrippen waren im 19. Jahrhundert bei einer Restaurierung mit einer der ersten Betonmischungen überhaupt aufgebaut worden. Jetzt waren die Armierungen von Rost zerfressen und das prächtige Fenster durch die großen Windlasten in höchster Gefahr. Diese Arbeiten waren weder vorausgesehen noch besonders einfach umzusetzen und änderten den Zeit- und Finanzplan erheblich. Auch die zuletzt stark gestiegenen Baustoffpreise führten dazu, dass das von der Arbeitsgemeinschaft Hartkopf Seemann erarbeitete Sanierungskonzept im Rahmen der Förderung nicht vollständig umgesetzt werden konnte. Die größten Abstriche mussten bei der Sanierung des Kircheninnenraums gemacht werden. Hier werden die Ziele nur in den beiden Nebenräumen, der Wunderblutkapelle und der Sakristei, erreicht. In der Sakristei wurde bei der Wiederherstellung des Fußbodens ein geheimnisvoller Kellerraum entdeckt. In beiden Räumen werden die Fenster durch die japanisch-schweizerische Künstlerin Leiko Ikemura gestaltet und diese nach dem Einbau 2022 in ein neues Licht tauchen. Die modernen Fenster verbinden Elemente aus dem Mittelalter mit der Gegenwart und spannen einen kosmischen Bogen auf: ein großer Wurf! Bemerkenswert ist, dass hier durch die Sanierungsarbeiten nicht „nur“ denkmalgerecht gesichert und wiederhergestellt worden ist: Beide Räume sind liturgisch besser nutzbar und damit für Andachten und Begegnungen erheblich aufgewertet worden. Die Aufwertung von Kirchen- und Altarraum war eine der großen Motivationen für die Kirchengemeinde, die langjährigen Sanierungsarbeiten zu starten. Doch wer jetzt das Kircheninnere betritt, mag vielleicht denken: In Wilsnack nichts Neues! Es gab umfängliche Beratungen zum Kircheninnenraum, ein modernes Lichtkonzept ist erarbeitet worden, Sondagen wurden durchgeführt, Probeanstriche ausgeführt: Umgesetzt werden kann davon im Rahmen der nun auslaufenden Förderung nichts mehr.
Kirchengemeinde und Förderverein sind deshalb weiterhin auf der Suche nach Kooperationspartnern und Fördermitteln, um die noch offenen Aufgaben aus dem Gesamtkonzept für Kirche und Umfeld zu lösen. Die Restaurierung des Kircheninnenraumes nach liturgischen und denkmalfachlichen Gesichtspunkten ist dabei die Kardinalaufgabe. Erst danach ist die volle Nutzbarkeit dieses Denkmals von nationaler Bedeutung auf Dauer gewährleistet. Nicht minder anspruchsvoll ist die Gestaltung des Kirchenumfeldes. Zwei wichtige Bausteine aus dem Gesamtkonzept konnten bereits realisiert werden: Im Gemeindehaus hat 2021 das Pilger-Café eröffnet und bietet einen gemütlichen (und ganzjährig beheizbaren) Treffpunkt am Haupteingang der Kirche. Es wird von einer jungen Konditorin geführt, die aus der Prignitz stammt und zur Ausbildung mehrere Stationen in Großstädten Deutschlands durchlaufen hat. Die Eröffnung des Pilgercafés wurde erst möglich, als das Diakoniewerk Karstädt Wilsnack e. V. aus den Räumen ausgezogen war. Dafür konnte ein zweiter Baustein aus dem Gesamtkonzept realisiert werden. Das ehemalige Inspektorenhaus als Teil des historischen Gutsensembles um die Kirche hatte die Kirchengemeinde 2017 von der Stadt Bad Wilsnack gekauft. Mit Hilfe von EU-Fördermitteln aus dem LEADER-Programm konnte es für die Nutzung als Diakoniestation und zur Tagespflege umgebaut werden. Das Diakoniewerk arbeitet seit 2021 in diesen Räumen.
Ein dritter Baustein, das Schließen der städtebaulichen Wunde auf der sogenannten Schlossplatte, ist weiterhin in Bearbeitung. Diese „Leerstelle“ des ehemaligen Prälatenhauses und späteren Barockschlosses der Patronatsfamilie von Saldern, welches 1976 nach einem Brand abgetragen wurde, ist von mehreren Seiten intensiv betrachtet worden. Eigentümerin der Schlossplatte und des unmittelbaren Umlands der Kirche ist die Stadt Bad Wilsnack. Kommune und das Amt Bad Wilsnack/Weisen unterstützen die Kirchengemeinde und kooperieren in vorbildlicher Weise. Es wurde deutlich, dass es noch weiterer Partner bedarf, um diesen Projektbaustein umzusetzen. Allen Beteiligten ist bewusst, dass der Lückenschluss in der historischen Mitte Bad Wilsnacks allein schon aus städtebaulicher Sicht für die Entwicklung des Ortes unbedingt erforderlich ist. Die Potenziale der alten Pilgerkirche als kirchlicher, touristischer und gesellschaftlicher Leuchtturm im Norden Brandenburgs werden sich erst mit einem multifunktionalen Gebäude auf der Schlossplatte voll entfalten können.
Während der siebenjährigen Bauphase ist der Baufortschritt in Bad Wilsnack aufmerksam beobachtet worden. In jedem Jahr wurden mehrere öffentliche Bauführungen angeboten, es kamen mit 40 – 60 Personen jeweils viele Interessierte. Mit der Corona-Pandemie mussten die Bauführungen entfallen; regelmäßige Infos sind auf dem Instagram-Kanal #wunderblutkirche erschienen.
Die Pilgerwege nach Wilsnack finden weiterhin großen Zuspruch. Der Förderverein der Wunderblutkirche kooperiert mit den Pilgerzentren in Berlin, Hamburg und dem Pilgerbeauftragten der Ev. Kirche im Mecklenburg-Vorpommern. Projekte wie „Glocke kommt zurück“, #biopilgern und die Pflege des Netzwerkes um die Pilgerwege bilden die Basis für eine überregionale Strahlkraft und Anziehung der Wunderblutkirche St. Nikolai mit ihrem Umfeld. 2019 wurde ein ZDF-Fernsehgottesdienst aus der Wunderblutkirche ausgestrahlt und machte die Kirche unter Christen im ganzen Bundesgebiet bekannt.
Die Wunderblutkirche besitzt als alte Wallfahrtskirche seit Jahrhunderten einen besonderen Charme, dem sich kaum jemand entziehen kann. Im Spätmittelalter stieg der Ort dank der perfekten Vermarktung des Wunderblutkults zu einem europaweit geachteten und berühmten Wallfahrtsort auf. Die Reformation entlarvte den Kult als „Fake“ – die prächtige Kirche blieb erhalten. Es sind die zutiefst menschlichen Züge und Motive der Wilsnacker Wallfahrt, die so faszinieren. Heute ist die spirituelle Erfahrungssuche des „Betens mit den Füßen“ in Verbindung mit Naturerfahrung das Hauptmotiv der Pilgernden. Mit der schrittweisen Realisierung des Gesamtkonzeptes zur Entwicklung der Pilgerkirche mit ihrem Umfeld gewinnt die Region einen Ort, „der jenseits von Konfessionen oder Kirchen lange verschüttete Tiefendimensionen menschlicher Existenz zu entdecken ermöglicht“, wie es Hartkopf und Kühne vorausgesehen haben.