Wenn die Gruft sich öffnet
Sepulkralarchäologen über die Schulter geschaut
Andreas Flender ist ehrenamtlicher Baubeauftragter der evangelischen Kirchengemeinde Havelländisches Luch und Regionalbetreuer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V. für den Landkreis Havelland.
In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche alte Kirchen vor dem Verfall gerettet worden, so dass man sich in den letzten Jahren stärker auf die „inneren Werte“ der Gebäude konzentrieren konnte. Vielerorts wird der Friedhof um die Kirche herum noch heute für Bestattungen genutzt, in anderen Orten zeugen verwitterte Grabsteine von seiner früheren Nutzung. Aber auch die Kirchengebäude selbst waren zu allen Zeiten Begräbnisstätten. Der Umgang mit Gräbern und Grüften als Bestandteil unserer Kultur ist wieder stärker ins Bewusstsein gerückt und mit ihnen auch die Fachleute, die hier unweigerlich einbezogen werden müssen. Sie sind nicht wegzudenken: die Archäologen, die immer dann gefordert sind, wenn die notwendigen Arbeiten „unterhalb der Oberkante Erdboden“ erfolgen. Landläufig bekannt sind Archäologen meist durch ihre Tätigkeit bei Ausgrabungen von unterirdischen Siedlungsresten und beim Auffinden von Tonscherben und Geldmünzen aus früheren Zeiten. Das Ehepaar Dr. Andreas und Dr. Regina Ströbl blickt hier auf viele Jahrzehnte Erfahrungen zurück. Inzwischen haben sie sich auf die frühneuzeitliche Begräbniskultur spezialisiert. Die beiden studierten Kunsthistoriker und Sepulkralarchäologen aus Lübeck sind überall im Land gefragt, wenn es darum geht, Grablegen zwischen Renaissance und Jugendstil zu dokumentieren. Sie gründeten im Jahr 2011 die Forschungsstelle Gruft.
Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts errichteten die Adelsfamilien, die vielfach auch das Kirchenpatronat innehatten, verstärkt auch in kleinen Kirchen eine Begräbnisstätte für die Familie. Bei der Vielzahl der Dorfkirchen in Brandenburg aus dieser Zeit ist es daher kein Wunder, dass die Forschenden verstärkt auch hier im Einsatz sind. Die wissenschaftliche Erforschung ist indes im Normalfall nicht der Auslöser für ihr Tätigwerden. Oft sind es bauliche Maßnahmen an den zahlreichen Dorfkirchen des Landes. In Schilde (Prignitz) wurde um die Gruft herum eine Hüllensanierung der sehenswerten Dorfkirche ausgeführt, und in Wagenitz (Havelland) wollte man zunächst nur sichergehen, dass von dem Kellergewölbe keine Schimmelgefahr ausgeht, wenn man die darüberliegende Kirche aufwendig saniert. In Golzow (Potsdam-Mittelmark) ist der Gruftzugang in den Kirchenraum integriert und bildete den Abschluss der Sanierungsarbeiten.
Der erste spannende Augenblick ist dann gekommen, wenn eine über Jahrzehnte vermauerte oder nicht begangene Begräbnisanlage erstmals wieder betreten wird. Hier erhält die Redewendung „ans Licht kommen“ eine ganz neue Bedeutung. Die Forschenden sind gekleidet mit Ganzkörperanzug in Weltraum-Qualität, die einzigen Waffen sind helle LED-Strahler. Von Gruselkabinett also keine Spur. Erst wenn die Fachleute Entwarnung geben, dürfen andere befugte Personen mit oder ohne Atemschutz den Bereich betreten.
Zunächst erfolgt eine Bestandsaufnahme, hier werden die Art und Anzahl der Särge ermittelt sowie deren Erhaltungszustand. Andreas Ströbl hat für die Klassifizierung eigens ein Typenverzeichnis für Särge entwickelt, um die Einordnung für die noch sehr junge Forschung zu erleichtern. In Schilde registrierte man 14 Särge der Familie von Graevenitz, in Wagenitz 26 Särge – darunter zehn Kindersärge – der Familie von Bredow, und in Golzow waren es sogar 28 Särge der Adelsfamilie von Rochow. Es gehört zu den Grundsätzen der Forschungsstelle Gruft, dass unversehrte Grablegen nicht geöffnet werden. „Ist ein Sarg intakt, dann würden wir zwar zu gerne hineinschauen, aber wir tun das nicht, sondern überlassen das künftigen Generationen, die das vielleicht mit besserer Technik zerstörungsfrei vornehmen können“, sagt Andreas Ströbl.
Grüfte in Dorfkirchen sind im Grunde gemauerte Gebäude „um einen oder mehrere Särge herum“ und manchmal von einem gewöhnlichen Kellergewölbe nicht zu unterscheiden. Bei guten klimatischen Bedingungen bleiben die Särge über Jahrhunderte erhalten. Das gilt im Übrigen auch für die natürliche Mumifikation der dort beerdigten Leichname.
In Golzow war die Mehrzahl der Särge noch in gutem Zustand und es ging vor allem darum, diese zu reinigen und dauerhaft gegen Verfall zu schützen. In Schilde und Wagenitz hingegen gab es genügend Särge und Bestattungen, die nicht mehr intakt waren. In Schilde lagerte Munition in einem der Särge; offenbar hatten Soldaten für das kostbar-tödliche Gut einen trockenen Ablageort gefunden. In Wagenitz wurden Nester von Tieren entdeckt. In beiden Grüften waren die Untersärge weitgehend vergangen. Hier beginnt dann eine wahrhafte Puzzle-Arbeit für die beiden Archäologen. Mit aller Vorsicht werden die vorgefundenen Reste von Sarg und Bestattung sortiert, gesiebt und zugeordnet. Da sind wir wieder in der Welt der Archäologie, wenn aus einem vermeintlichen Schutthaufen ein Sargbeschlag aus Buntmetall oder der Knopf einer Soldatenuniform auftaucht.
Eindringende Nässe und schlechte Belüftung sind oftmals Ursachen eines solchen Verfalls. Aber auch Menschenhand sorgte für Schäden und Zerstörung. So meldete sich in Golzow auf den öffentlichen Aufruf hin eine Person beim Pfarrer und gab den Schädel eines Toten zurück, den diese als Jugendliche entwendet hatte, um Kameraden zu erschrecken. Womöglich auch zur Vermeidung solcher Plünderungen wurden Grüfte vermauert, was wiederum die Belüftung empfindlich störte und das Wachstum des Gemeinen Hausschwamms begünstigte. In Schilde wurde daher mit der Sanierung für eine dauerhafte Querlüftung gesorgt, in Wagenitz wurde die bestehende Querlüftung verbessert und durch die Öffnung des Zugangs weiter optimiert.
Wenn man den beiden Forschenden bei der Arbeit zuhört und zuschaut, kommt man immer wieder ins Staunen. Auch nach mehr als 50 Referenzprojekten hört man Andreas Ströbls erstaunten Ruf: „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Und dann gab es wieder einen Fund als Teil des großen Puzzles der frühneuzeitlichen Bestattungskultur. Apropos Fund: Mit hochgradig wertvollen Grabbeigaben haben sich in der Regel frühere Generationen bedient: „Da kommen wir zu spät“, sagen die Archäologen. Aber zum Beispiel eine reich verzierte Epaulette oder eine Zahnbürste gehören zu den Überraschungen. Wenn der interessierte Besucher fragt, wie groß denn der hier Bestattete einst gewesen sein könnte, legt sich Andreas Ströbl neben den Sarg und fragt den verblüfften Besucher: „Würde ich denn reinpassen?“ Särge aus dem Katalog gab es nämlich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, vorher wurden sie einzeln angefertigt. Mehr noch: Oftmals ließ der Verstorbene sie bereits zu Lebzeiten anfertigen. In Wagenitz gibt es einen eindrucksvollen Beweis auf einer Sarginschrift, bei der nur noch der genaue Todestag post mortem ergänzt wurde. Regina Ströbl ist Spezialistin für Textilrestaurierung und kann an den kleinsten Stoffteilen feststellen, wie (hübsch) der oder die Verstorbene gekleidet war. Und es ist für sie selbstverständlich, dass sie die vorgefundenen Bestattungen sorgfältig in Leinentuch einwickelt, bevor sich der Sargdeckel darüber wieder für immer schließt.
Doch zunächst einmal gilt es, die Särge wieder zu ertüchtigen. Ein interdisziplinäres Team von Restauratoren berät je nach Erhaltungszustand über die Art der Wiederherstellung. Ist der Sarg noch gut erhalten, genügt häufig eine Reinigung der Oberflächen. Am anderen Ende der Schadensskala steht der vollständige Neubau (Rekonstruktion), oft als letzte Möglichkeit. Dazwischen gibt es abgestufte Verfahren, zum Beispiel eine Teilrekonstruktion oder Ergänzungen. Und der interessierte Beobachter staunt, wie mittels Wattestäbchen oder destilliertem Wasser Inschriften wieder lesbar werden oder Lackschichten plötzlich wieder in altem Glanz erstrahlen.
Zum weiteren Umgang mit einer sanierten Gruft beobachten wir ein sehr differenziertes Spektrum an Möglichkeiten. In Kampehl (Ostprignitz-Ruppin) ist mit dem Landadeligen Christian Friedrich Kahlbutz eine vollständig erhaltene natürlich mumifizierte Bestattung unter einem gläsernen Sargdeckel als Tourismusmagnet bekannt. In Illmersdorf (Spree-Neiße) befinden sich elf Särge in einem Seitenschiff der Kirche, fünf Mumien davon sichtbar unter gläsernen Sargdeckeln. In Berge bei Nauen (Havelland) befinden sich zwei Mumien unter einer Glasscheibe, die auf den jeweiligen Untersarg gelegt ist. Die Forschungsstelle Gruft hat sich ganz klar für einen anderen Weg entschieden. Selbstverständlich sind Grüfte Stätten der Erinnerung und des Gedenkens, so deren Credo. Warum die beiden sich gegen gläserne Särge aussprechen, begründen sie mit einer überraschenden Gegenfrage: „Möchten Sie nach Ihrem Tod in einem Schaufenster ausgestellt werden?“ Selbst wer diese Frage für sich bejahen sollte: Wie mag eigentlich der Wille des Verstorbenen gewesen sein, der hier vor mehreren hundert Jahren beerdigt wurde? Und so stand von vornherein fest, dass in Schilde, Golzow und Wagenitz alle restaurierten Särge wieder einen Holzdeckel erhalten, der fest mit dem Untersarg verbunden ist – wie eben zum Zeitpunkt der ursprünglichen Beerdigung. Die Erinnerungsstätten sind nach ihrer Restaurierung eingeschränkt zugänglich, was in der Verantwortung der jeweiligen Kirchengemeinde geregelt wird.
Die Adelsfamilie von Bredow: Theodor Fontane beschreibt sie als die Märkischste aller märkischen Adelsfamilien. Eines der zahlreichen Erbbegräbnisse der verschiedenen Familienzweige derer von Bredow befindet sich in Wagenitz. Über 80 Prozent der heute noch lebenden Familienmitglieder wissen dort ihre Vorfahren beerdigt. Wir stehen am Sarg von Ernst Wilhelm Reichsgraf von Bredow (1709 – 1755), seines Zeichens Reichshofrat in Wien und preußischer Etat- und Cabinetsminister in Berlin. Er starb an einem Schlaganfall in Berlin, wo er das ganze Jahr über lebte. Nur im Sommer war er für einige Wochen im Havelland. Auch er wollte „nach Hause kommen“ und als Eigentümer von Wagenitz bei seiner Familie beerdigt sein. Der Sarg mit sechs verzierten Bügelgriffen, für den Transport eigens präpariert, wurde als Innensarg in einen mit Leder bespannten, reichverzierten Corpus eingelassen. Der Untersarg ist stark geschädigt durch Feuchtigkeit, der Sargdeckel von Menschenhand unfachmännisch, weil in böser Absicht, geöffnet.
Auch sein Sarg steht in Ost-West-Richtung. Wenn sich der Verstorbene einst aufrichtet, schaut er nach Osten, von wo die Wiederkunft Jesu Christi am Jüngsten Tage erwartet wird. Abschließend sei daher noch einmal Andreas Ströbl zitiert: „Grüfte sind keine Stätten des Vergangs, sondern Orte der Auferstehung!“ Ein Zeitgenosse des Reichsgrafen von Bredow hat das so formuliert:
Ach Herr, lass dein’ lieb Engelein
Johann Sebastian Bach
Am letzten End’ die Seele mein
In Abrahams Schoß tragen;
Den Leib in sein’m Schlafkämmerlein
Gar sanft, ohn’ eig’ne Qual und Pein,
Ruhn bis am Jüngsten Tage!
Alsdann vom Tod erwecke mich,
Dass meine Augen sehen dich
In aller Freud‘, o Gottes Sohn,
Mein Heiland und Genadenthron!
Herr Jesu Christ, erhöre mich,
Ich will dich preisen ewiglich!
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) beendet mit diesem Choral als Schlusschor seine Johannes-Passion (BWV 245), in der er die Leidensgeschichte Jesu aus der Sicht des Evangelisten Johannes musikalisch wiedergibt. In Schilde, Golzow, Wagenitz und wohin immer die Gruftforschenden noch zum Einsatz gerufen werden, wurde und wird diese Ruhe wiederhergestellt und die Memorialkultur für die nächsten Generationen erhalten.