von Joachim Kays

Ende einer Odyssee

Das Marienretabel aus Teetz

Joachim Kays ist pensionierter Musiklehrer.

Altar aus der Dorfkirche Teetz im geöffneten Zustand; Fotos: Joachim Kays

Die evangelische Kirchengemeinde Teetz in der Prignitz blickt in diesem Jahr erwartungsvoll auf zwei Ereignisse, die das Ende eines Jahrzehnte alten Missstandes bedeuten. Einerseits wird die Restaurierung der Kirche fast abgeschlossen werden. Mit Ausnahme des Turmhelms, der 1972 umstürzte und durch ein zu niedriges Dach ersetzt wurde, werden alle notwendigen Arbeiten beendet sein, um die repräsentative Kirche erneut im historischen Erscheinungsbild zu zeigen.

Grundlage für den 1860 eingeweihten Bau war der unter Friedrich August Stüler fortgeschriebene preußische „Normalkirchenerlass“ Friedrich Wilhelms III., umgangssprachlich: der Kirchenbaukasten, was letztlich die denkmalgerechte Ergänzung fehlender Teile ermöglicht.

Dank der Fürsorge des rührigen Fördervereins hat auch die zierliche Lütkemüller-Orgel, historisch wiederhergestellt, nach einigen Umwegen wieder auf ihre Empore gefunden. Darüber hinaus hat der Förderverein mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz die Aufarbeitung des Teetzer Retabels initiiert.

Detail aus der Predella: Drei „Virgines capitales“

Folglich wird nach langem Exil das spätmittelalterliche Retabel erneut und erneuert in die Kirche einziehen. Der Befall mit Anobien, einem Holzschädling, der wohl von der Decke des Kirchenraums ausging, hatte auf das Retabel übergegriffen und die Restaurierung notwendig gemacht: das Holzmehl, das sich zentimeterhoch vor den Füßen der Heiligen anhäufte, wies auf die akute Bedrohung hin. Aus diesem Grund wurde das Retabel schon vor Jahrzehnten in der Kirche von Königsberg aufgestellt und im Jahr 2004, als diese renoviert wurde, in die Kapelle des Nachbarorts Ganz gebracht. Da sich der Zustand weiter verschlechterte, wurde der Altar im Sommer 2018 erst begast und dann zur Restaurierung in die Werkstatt von Daniela Baumberg in Berlin transferiert. Nach dem Abschluss dieser Arbeiten gewährten die Stiftsdamen des Klosterstifts Heiligengrabe dem Retabel im ehemaligen Brunnenhaus des Klosters eine würdige Bleibe vor der endgültigen Heimkehr. 

Altar im geschlossenen Zustand

Völlig unklar ist die Herkunft des Kunstwerks. Es scheint vor der Kircheneinweihung im Jahr 1860, die auf einem kaschierenden Papier auf der Innenseite als Anlass für eine Restaurierung erwähnt wird, keine Quelle zu geben, die die Geschichte des Retabels erhellt oder erklärt, wie ein so prächtiger Schnitzaltar in eine doch recht entlegene, kleine Gemeinde kommt. Der Denkmalführer Dehio für das Land Brandenburg vermutet, dass der Altar um 1520 entstanden ist. Diese Datierung wird gestützt durch die Zuschreibung der Gemälde von Predella und Flügel als „in der Art der Cranach-Schule“. Möglicherweise kommt als Maler Erhard Altdorfer in Betracht, Bruder des viel bekannteren Albrecht, der nach verschiedenen Kontakten zu Lucas Cranach d. Ä. seit 1512 als Hofmaler und Baumeister am Hof in Schwerin wirkte. Von ihm ist bekannt, dass er auch später mehrfach Motive und Stilmerkmale der Cranach-Schule verwendete. Seiner Herkunft aus dem süddeutschen Raum könnte auch die im Norden Deutschlands eher ungewöhnliche Gruppe der vierzehn Nothelfer auf der Predella geschuldet sein. Es ist nicht auszuschließen, dass der Altar aus Angst vor einem reformatorischen Bildersturm nach Teetz in Sicherheit gebracht wurde. 

Das Retabel ist ein Dreifigurenschrein mit Flügeln, die jeweils zwei Figuren in zwei Registern übereinander zeigen. Die Außenseite der Flügel ist farbig gefasst. Der Schrein selbst ruht auf einer kastenförmigen Predella, die etwa die halbe Höhe des Schreins hat. Wie üblich wurde für das Gehäuse Kiefernholz verwendet, die Figuren sind aus Linde. Alle Flächen sind gefasst.

Die Malereien auf den Außenseiten der Flügel stammen vermutlich aus der Werkstatt, die auch die Predella gemalt hat. Die Rückseite des Schreins zeigt eine andere Handschrift: die nicht identifizierbaren Pflanzen erinnern eher an die Typisierung spätmittelalterlicher Buchmalerei. Alle freien Außenkanten des Schreins wie auch der Predella sind geschwärzt. Die begrenzenden Gehäusekanten auf der Vorderseite sind karmesinrot hervorgehoben. Die Einfassung der Predella wirkt ziemlich derb. In geschlossenem Zustand wirkt die Predella zudem etwas unproportioniert groß. Die vierzehn Heiligen sind als Kniestücke wiedergegeben. Sie sind durch ihre Attribute erkennbar. Ihre Verehrung wurde als eine Art Schutz vor allen Katastrophen des Daseins gedacht. Die Darstellung ist im Detail nicht ohne Komik, etwa die Figur des Vitus und des mit ihm verbundenen Hähnchens.

Auf den ersten Blick scheint die Ikonographie des Altars sehr einfach. Dass das Bildprogramm nicht ungewöhnlich ist, zeigt sich bei zwei fast gleichzeitig entstandenen Altären im Bode-Museum in Berlin. Der Altar aus Obersachsen [Inv. 7711], entstanden um 1510, zeigt die gleiche Figurenanordnung wie beim Teetzer Altar. Im Mittelschrein sieht man Nikolaus und Maria, rechts allerdings eine Märtyrerin, in den Flügeln je vier Heilige. Selbst bei der Malerei der Außenseiten gibt es Übereinstimmungen. Die Rückseite ist mit pflanzlichen Motiven in Form einfacher rostfarbener Ranken bedeckt. Beim zweiten Altar aus Franken um 1500 [Inv. 1982] ist in diesem Zusammenhang die Predella bemerkenswert, die, ähnlich geschweift, die vierzehn Nothelfer darstellt. In der Darstellung selbst besteht allerdings keine Ähnlichkeit.

Marienfigur aus dem Mittelschrein

Das Teetzer Retabel zeigt im Mittelschrein zentral Maria mit dem Jesuskind, links Nikolaus und rechts Anna Selbdritt. Die Felder, vor denen die Skulpturen stehen, sind ungleich breit, das der Maria zeigt eine Mandorla mit geschweiften goldenen Strahlen. Diese Fläche ist plan, im Gegensatz zu den Hintergrundflächen auch der Flügel, die punziert und vergoldet sind, was Anfang des 16. Jahrhunderts noch recht häufig ist. Der dunkle Farbton dieser Fläche weist vermutlich auf oxidiertes Silber hin, was auftreffendes Licht ungebrochen zum Betrachter hin reflektieren würde und Maria damit gewissermaßen aus dem Altar heraustreten ließe. Sie ist bekleidet mit einem goldenen, blau gefütterten Gewand. Wie bei allen geschnitzten Figuren findet sich im Hintergrund ein punzierter Nimbus. Links und rechts von ihrem bekrönten Kopf finden sich je zwei kleine Engel, ein grau gekleideter steht jeweils auf dem Kapitell eines Pilasters, der die Schreinfläche in die Felder aufteilt; die beiden anderen sind in Gold gewandet und schweben einander anblickend nach oben versetzt am Nimbus. Maria hält in der rechten Hand den blühenden Stab Aarons, das alttestamentliche Symbol ihrer Auserwähltheit. Auf dem linken Arm trägt sie das unbekleidete Jesuskind, dessen Hände eine goldene Kugel umfassen, die es als Salvator mundi (Retter der Welt) ausweist. Bemerkenswert ist vor dem linken Knie der Maria eine Falte, die das Futter im sonst sehr geordneten Mantel erkennen lässt. Es handelt sich vermutlich um eine sogenannte Ohrenfalte, die auf die Zeugung Jesu durch das Wort Gottes hinweist: die Ohrenzeugung. Das bekannteste Beispiel dieser Darstellung zeigt der Englische Gruß des Veit Stoss in der Lorenzkirche in Nürnberg.

Rechts von Maria steht Anna in einem erdfarbenen Kleid, das größtenteils von einem goldenen Mantel mit rotbraunem Futter verdeckt ist und einem Kopftuch, das sie als verheiratete Frau kennzeichnet. Auf ihrem rechten Arm sitzt ein praktisch identischer Jesus, links dagegen eine kaum größere Maria in goldenem Gewand, ein Buch haltend. Der links stehende Nikolaus ist mit den Insignien eines Bischofs ausgestattet. Sein Mantel zeigt das für Nikolaus typische Rot. Zudem teilen die Borten der Gewänder die Namen der Gestalten mit. Die Heiligen der Flügel sind etwa halb so groß, stehen auf Postamenten, die ihre Namen tragen. Sie sind aber ebenso durch ihre spezifischen Attribute erkennbar. Oben schließen alle Felder mit durchbrochenem, vergoldetem Rankenwerk ab. Die teilweise sichtbaren Rückseiten des Blattwerks waren ursprünglich versilbert. Auch hier ist die Wirkung durch die oxidative Schwärzung verloren gegangen. Das schon im Rahmen vorkommende Rot, das den Hintergrund dieses Rankenwerks bildet, gibt dem Retabel Tiefe.

Eine Besonderheit zeigt sich bei der Darstellung der weiblichen Heiligen: Katharina, Barbara und die kindliche Maria werden mit einem Buch in der Hand dargestellt. Wenn man Anna einbezieht, die Maria das Lesen gelehrt haben soll, muss man sich fragen, was einen Stifter veranlassen könnte, den Aspekt weiblicher Bildung so markant zu formulieren. Die Verehrung Annas und ihre Heiligsprechung ist ohnehin als Akt weiblicher Emanzipation zu verstehen. Der Legende nach zeichnet Anna all das aus, was die zeitgenössische Frau entbehrt.

Pflanzenmotive auf der Rückseite des Mittelschreins

Es gibt einen weiteren kunsthistorischen Aspekt, der eine Betrachtung lohnt. Eben diese Frauen bilden den Kern der Personengruppe, die bei der Mystischen Hochzeit der Katharina zugegen ist. Diese Unio Mystica wird verstanden als Vereinigung von Gott und Mensch. Ort des Geschehens ist häufig der Hortus conclusus, der abgeschlossene Garten, zu dem nur Heilige, meist sogar nur Frauen, Zutritt haben. Er ist gegen die Welt mit einer Hecke oder einer Mauer geschützt. 

Die äußeren Flügelseiten des Altars zeigen Laurentius und eine Gestalt, deren Bestimmung nicht eindeutig möglich ist; es könnte sich aber um Johannes den Täufer handeln, der damit während der Schließung des Retabels in der Fastenzeit als Vorbild der Entsagung dienen könnte. Beide stehen vor einer Mauer, einem sehr ungewöhnliches Detail, für das es keine Erklärung gibt, es sei denn, man betrachtet den Altar als Darstellung eines Hortus conclusus.

Der Gemeinde in Teetz ist zu wünschen, dass dieses wundervolle Retabel wieder der geistliche Mittelpunkt in der restaurierten Kirche wird.

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