Eine Lücke im Dorfbild wird geschlossen
Der Umzug einer Kapelle
Magdalene Wohlfarth ist Pfarrerin im Evangelischen Kirchspiel Genthin.
Verwaist ist die Mitte des kleinen Dorfes Jerchel im Milower Land. Früher hatte hier die Fachwerkkirche aus dem 16. Jahrhundert ihren Platz – von einer Mauer, alten Linden und einem Friedhof umgeben. Heute stehen auf dem Kirchplatz ein Glockenstuhl mit den Glocken der alten Kirche, etwas verloren ein kleines Feuerwehrhäuschen und ein paar Nadelgehölze. Die Häuser des Dorfes sind wie Küken ohne Henne. Der Friedhof befindet sich schon lange an einem anderen Platz. Die Kirche wurde in den 1980er Jahren abgerissen. Der Abriss hat eine Wunde im Dorfgedächtnis hinterlassen und einen leeren Platz in der Dorfmitte. Alte Akten und Fotos belegen einen desolaten Zustand der Fachwerkkirche in den 1970er Jahren. Das Dach hatte Löcher, das Fachwerk war brüchig, die Mauer war von Grün bewachsen und die Linden nach Ansicht der Gutachter zu mächtig. Die nötigen Mittel zur Erhaltung der Kirche sollen gefehlt haben. Und so kam es zum Abriss der alten Fachwerkkirche in Jerchel. Der romanische Taufstein wurde in die Kirche des Nachbarortes gebracht. Dieser Abriss – erst in den 1980er Jahren! – schmerzt die Jercheler bis heute.
Vor einigen Jahren musste auch das Pfarrhaus, in dem zwei Räume als Versammlungsort der Kirchengemeinde dienten, verkauft werden. Seitdem plant sie, ein kleines Gemeindehaus auf dem ehemaligen Kirchplatz zu errichten. Mit nur 24 Mitgliedern ist die Kirchengemeinde Jerchel sehr klein, doch ist sie eingebettet in das Kirchspiel Nitzahn mit insgesamt fünf Dörfern, die gut miteinander kooperieren und sich gegenseitig zu den Veranstaltungen und Gottesdiensten besuchen.
Im Zuge der Überlegungen zum Neubau eines Gemeindehauses trat der Bürgermeister des Milower Landes mit einem überraschenden Vorschlag an die Kirchengemeinde heran: Man könnte eine kleine Waldkapelle von Kleinwudicke nach Jerchel umsetzen und einer neuen Nutzung für die Gemeinde zuführen.
Auch die Geschichte der Waldkapelle Kleinwudicke reicht weit zurück und birgt interessante Hintergründe. Rittmeister August von Möllendorf aus Großwudicke ließ 1778 in dem angrenzenden sehr kleinen Dorf Kleinwudicke eine Waldkapelle errichten. Auf dem Friedhof des Örtchens gelegen, sollte sie den Bewohnern für Taufen, Trauungen und Beerdigungen zur Verfügung stehen. Bis heute zeugt das noch vorhandene Inventar der einsturzgefährdeten Kapelle davon: es gibt Traustühle, einen sehr einfachen Altar und eine Vorrichtung für eine Taufschale. Die Kapelle wurde wie die Jercheler Kirche als Fachwerkbau auf dem Waldfriedhof am Ortsrand von Kleinwudicke errichtet.
Wenn man heute diesen romantischen Ort besucht, glaubt man, sich in einem Bild Caspar David Friedrichs wiederzufinden. Es ist ein besonderer Platz – wie aus der Zeit gefallen. Eigentlich müsste die Waldkapelle hierbleiben, aber hier verfällt sie mehr und mehr, denn seit vielen Jahrzehnten wird sie nicht mehr genutzt und fristet ein trauriges Dasein. Schon lange ist die Waldkapelle nicht mehr in kirchlicher, sondern in kommunaler Hand. Die winzige Gemeinde Kleinwudicke kann sie weder erhalten noch nutzen. Eine neuerbaute Friedhofskapelle steht schon lange als Ersatz zur Verfügung. Deshalb bekam die Kirchengemeinde Jerchel dieses erstaunliche Angebot.
Der Vorschlag der Umsetzung erschien dem Gemeindekirchenrat des Kirchspiels Nitzahn zunächst völlig indiskutabel und utopisch, ja regelrecht verrückt. Aber nach und nach hat die Idee Liebhaber gefunden. Zudem standen für das Projekt EU-Mittel in Aussicht. Um diese Mittel zu erhalten, musste die Kirchengemeinde als Antragstellerin ein Nutzungskonzept erarbeiten. In diesem Nutzungskonzept sollten verschiedene Akteure miteinander kooperieren, um das Projekt mit Leben zu erfüllen. Die Kapelle soll einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Natürlich wird sie auch der Versammlungsort für die Kirchengemeinde in Jerchel sein und darüber hinaus ein Anziehungspunkt für die Kirchengemeinden der Region. Zudem eignet sich die Kapelle auch als sozialer und kultureller Treffpunkt im Dorf – und als Ort der Begegnung über die Dorfgrenzen hinaus. Außerdem ist das Gebäude mit dem Standort Jerchel dafür prädestiniert, eine „Fahrradkirche“ zu sein, denn der Havel-Radweg führt direkt durch die Dorfmitte, also unmittelbar am geplanten Standort der Kapelle vorbei. So entstand der Arbeitstitel „Fahrrad- und Kulturkirche Jerchel“.
Ein neugegründeter Freundeskreis konnte recht schnell verschiedene Akteure als Kooperationspartner finden.
Die Vorteile und Möglichkeiten dieses im wahrsten Sinne des Wortes „verrückten“ Kapellenprojektes wurden immer offenkundiger:
- Die historisch wertvolle Waldkapelle Kleinwudicke kann durch die Umsetzung zum einen gerettet werden, zum anderen wird sie den ehemaligen Kirchplatz in Jerchel neu beleben und dem Dorf wieder ein Gesicht geben.
- Als Fahrrad- und Kulturkirche kann sie in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern (Tourismusverein, Kunst- und Kulturverein Bahnitz, Musikschulen, Wichernbuchhandlung u. a.) in vielfältiger Weise genutzt werden.
- Die Arbeit der Kirchengemeinde kann an Farbe und Ausstrahlung gewinnen – durch neue Formate für die ganze Region und für Menschen, die eher „kirchendistanziert“ sind (Taizéandachten, Angebote für Radfahrer, Kinder, Senioren, Meditationskurse u. a.).
Inzwischen ist das Projekt mit den ersten Schritten zur Planung des Rückbaus der einsturzgefährdeten Kapelle an den Start gegangen. Mit Fingerspitzengefühl und mit der Beratung des Denkmalschutzes wird hier zu Werke gegangen. Im Frühjahr soll die eigentliche Umsetzung erfolgen. Ein moderner, aber sehr zurückgenommener Anbau mit Funktionsräumen soll die vielfältige Nutzung ermöglichen. Es ist noch ein weiter Weg bis zur endgültigen Fertigstellung, aber die Kirchengemeinde, der Freundeskreis und Liebhaber der Kapelle freuen sich, wenn das Projekt mehr und mehr Gestalt gewinnt.