Die Kirche des Hutfabrikanten
Ein Gubener Kleinod im Jugendstil
Andreas Peter ist Heimatforscher und Inhaber des Niederlausitzer Verlages in Guben.
Im Südosten des Landes Brandenburg liegt die Niederlausitz – eine Region, die vor allem durch den Spreewald und den Braunkohletagebau bekannt ist. An ihrer östlichen Grenze zu Polen befindet sich mit Guben ein Ort, der 1235 von Heinrich dem Erlauchten, Markgraf von Meißen und der Ostmark, die Stadtrechte erhielt.
Die Stadt erlebte im 19. Jahrhundert, nachdem sie durch den Wiener Kongress von Sachsen zu Preußen gekommen war, im Zuge der einsetzenden Industrialisierung einen enormen Aufschwung. Vor allem die sich aus dem traditionellen Handwerk entwickelnde Tuch- und Hutindustrie trug wesentlich dazu bei. „Gubener Tuche, Gubener Hüte – weltbekannt für ihre Güte!“ lautete ein einprägsamer Werbeslogan. Noch Mitte der 1930er Jahre produzierten hier mehrere große Hutfabriken jährlich 10 Millionen Hüte.
Entscheidenden Anteil daran hatte der Hutmacher Carl Gottlob Wilke, der 1854 den wetterfesten Wollfilzhut erfand. Die besondere Qualität dieses Hutes bestand darin, dass er aufgrund einer speziellen Behandlung des Filzes auch bei Wind und Wetter seine Form behielt. Das kam einer Revolution in der Herstellung von Wollfilzhüten gleich. Nach dem Tod seines Erfinders 1875 übernahm sein Sohn Friedrich die Leitung der Hutfabrik, die er bedeutend ausbaute und die Produktion erfolgreich erweiterte. So verwundert es nicht, dass die Hutfabrikantenfamilie Wilke um 1900 zu den Millionären in der Stadt zählte. Die jahrzehntelange beharrliche Arbeit hatte sich gelohnt. Vom erworbenen Reichtum gab die Unternehmerfamilie großzügig weiter. Friedrich Wilke gründete soziale Stiftungen für die Arbeiter seiner Hutfabrik, trat als Mäzen in der Stadt Guben auf und regte auf diese Weise wohl auch andere Fabrikanten an, für das Gemeinwohl der Neißestadt beizutragen. Das ist die eine Seite der Medaille.
Auf der anderen Seite steht eine Reihe tragischer Schicksalsschläge, die Friedrich Wilke und seine Familie erleiden musste. Da ist zum einen der frühe Tod seiner Tochter Naemi zu nennen, die 1874 im Alter von 14 Jahren an Typhus starb. Um an sie zu erinnern und anderen Kindern ein ähnliches Schicksal möglichst zu ersparen, gründete er 1878 ein Kinderkrankenhaus, aus dem sich das Krankenhaus „Naemi-Wilke-Stift“ entwickelte.
Sein Sohn Fritz verstarb im Juni 1901 im 25. Lebensjahr „nach kurzem Leiden“, wie eine Traueranzeige in der damaligen „Gubener Zeitung“ mitteilte. Den Schmerz der Eltern über diesen Verlust mag man vielleicht erahnen. Doch auch diese tragische Situation vermochte Friedrich Wilke in etwas Positives zu wandeln, indem er zur lebendigen Erinnerung an seinen Sohn noch im selben Jahr den Bau einer Kirche in Auftrag gab. Er gehörte, wie schon seine Eltern, der altlutherischen Kirche an, denen es bislang an einem eigenen Gotteshaus in Guben fehlte. So war die kleine Gemeinde, trotz des traurigen Anlasses, doch froh, eine Kirche zu erhalten.
Friedrich Wilke beauftragte das Berliner Architektenbüro Spalding & Grenander mit der Planung und Ausführung der Arbeiten. Innerhalb von nur zwei Jahren entstand die „Kirche des Guten Hirten“, ein architektonisches Kleinod, das noch heute die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Es befindet sich auf einem Grundstück an der Ecke Straupitzstraße/Berliner Straße, etwa 100 Meter von der jetzigen Gubener Stadtverwaltung entfernt, deren Gebäude einst die Hutfabrik Wilke beherbergten.
Das von einer halbhohen Mauer eingefasste Kirchengebäude weist einen fast quadratischen Grundriss mit einem Spitzdach und sehr schlanker Kirchturmspitze auf. Zu den Gottesdiensten am Sonntagvormittag laden auch die drei Kirchenglocken ein, die aus der Glockengießerei in Bochum stammen. Da sie aus Stahl sind, blieben sie vor dem Einschmelzen in den Weltkriegen verschont. Die größte Glocke wiegt 20 Zentner und trägt die Aufschrift: „Ehre sei Gott in der Höhe“. Die beiden kleineren wiegen zehn bzw. sieben Zentner und tragen die Aufschrift: „Friede auf Erden“ und „Den Menschen ein Wohlgefallen“.
Als markantes Baumaterial kam rötlicher Sandstein zum Einsatz. Die Flächen der Außenwände wurden mit Mörtel verputzt. Für die Gemeinde gibt es sowohl von der Berliner Straße als auch von der Straupitzstraße aus durch hohe schmiedeeiserne Tore einen Eingang zur Kirche. Dieser wurde als Kreuzgang gestaltet, der an der linken Seite eines kleinen Innenhofes entlangführt. Rechts dieses Eingangs fällt ein kleiner Brunnen auf, dem sich wiederum rechts an der Kirchenmauer eine ebenfalls aus rötlichem Sandstein gefertigte Ruhebank anschließt. Für den Pfarrer wurde von der östlichen Seite aus zudem eine separate Pforte direkt zur Sakristei angelegt.
Das Äußere der Kirche macht einen gedrungenen, etwas wuchtigen Eindruck. Für manchen ähnelt sie einer Burg und ihm kommt dabei vielleicht das bekannte Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ in den Sinn.
Guben wurde im Februar 1945 zur „Festung“ erklärt. Bis Mitte April jenes Jahres war die Stadt ein äußerst stark umkämpfter Brückenkopf, den die deutschen Truppen erst am 24. April 1945 aufgaben. Während ein Großteil der historischen Altstadt bei diesen Kämpfen in Schutt und Asche versank, blieb „Die Kirche des Guten Hirten“ wie durch ein Wunder völlig unbeschadet.
Als Stadtwächter erhalte ich den Kirchenschlüssel für Stadtführungen von der hiesigen Touristinformation. Wir nehmen den südöstlichen Eingang von der Straupitzstraße aus und entdecken gleich rechts hinter dem schmiedeeisernen Tor eine schlichte, von Muschelkalk umrahmte Bronzetafel. Sie wurde Anfang Dezember 1925 eingeweiht und erinnert an die im Ersten Weltkrieg gefallenen 13 Gemeindemitglieder.
Nach dem Öffnen der Kirchentür empfängt uns eine zweiflügelige Schwenktür, hinter der uns das Kircheninnere erwartet. Ein Mittelgang, in dem man eine Fußbodenheizung erkennt, führt durch die Reihen der hölzernen Kirchenbänke nach rechts zum Altar. Das farbenprächtige dreiteilige Glasfenster dahinter zieht die Blicke sofort auf sich. Diese Arbeit von Werner Juza stellt Szenen aus der Bibel dar und wurde am 19. Juni 1983 zur 80-Jahrfeier der Kirche eingeweiht.
Als Altarbild steht das Fenster unter dem Motto „Christus der Sieger über den Tod als der sendende Herr“. Im Mittelfenster ist Christus als der sieghafte Herr dargestellt. Seine Hände und Füße weisen die Wundmale der Kreuzigung auf. Die fünf Gestalten unter ihm symbolisieren die Gemeinde, die ihren Herrn anbetet. Im linken Fenster deutet die Taube oben auf Pfingsten als Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes hin. Unten im Bild der barmherzige Samariter, der sich einem Notleidenden zuwendet. Im rechten Fenster ist oben das Lamm als Symbol für Jesus Christus zu erkennen. Im unteren Teil des Bildes erscheint Daniel in der Löwengrube.
Ursprünglich stand auf dem Altar ein Gemälde des akademischen Malers Paul Thumann (1834–1908) aus Groß Schacksdorf bei Forst (Lausitz), das nach dem Einbau der Glasfenster seinen Platz rechts neben dem Altar fand. Thumann war ein Freund der Familie Wilke und bekannt als vielbeschäftigter und erfolgreicher Buchillustrator in der Manier Ludwig Richters (1803 – 1884). Doch er schuf auch eine Reihe von Gemälden, so einen Zyklus mit Lebensstationen von Martin Luther, der auf der Wartburg zu bewundern ist. Für die Hutmacherfamilie Wilke schuf er Jugendbildnisse von Naemi und Max Wilke.
Das Gemälde in der Kirche stellt Jesus als guten Hirten dar, der ein Schäfchen auf dem Arm trägt. Nach ihm trägt die Kirche seit ihrer Weihe im Juni 1903 offiziell den Namen „Kirche des Guten Hirten“. Das Bild ist jetzt an der Wand rechts vom Altar zu sehen.
Links vom Altar befindet sich die Kanzel mit fein ziselierten Einlegearbeiten aus Messing. Ihr gegenüber fallen in der ehemaligen Stifterloge drei farbige Glasfenster mit den figürlich gestalteten christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung auf. Das Herz als Symbol für die Liebe entdeckt der aufmerksame Betrachter zudem an den Kirchenbänken sowie den beiden Kronleuchtern aus Messing. All dies lässt sich dem Jugendstil zuordnen, der um 1900 in voller Blüte stand.
Die Orgel erhielt an der Westseite der Kirche auf der Empore ihren Platz. Sie stammt aus der renommierten Orgelbauwerkstatt Sauer aus Frankfurt (Oder). Erwähnenswert ist auch noch die hölzerne Lutherskulptur auf hohem Sockel, die 1915 von Max Wilke und seiner Frau Luise zu ihrer Silberhochzeit gestiftet wurde.
Natürlich gäbe es noch viel mehr zu erzählen: Über die Familie Wilke, die Gubener Kirchenmaus Piepsi und über Guben selbst. Dazu lade ich Sie herzlich zu einem Besuch ein und geleite Sie als Gubener Stadtwächter gerne bei einer poetischen Stadt(ver)führung durch meine Heimatstadt.
Bevor wir die Kirche wieder verlassen, weise ich auf das Porträt von Friedrich Wilke aus Messing hin, das sich links neben dem Ausgang befindet. Es wurde von der berühmten Gießerei Gladenbeck in Berlin-Friedrichshagen angefertigt und Mitte Dezember 1909 eingeweiht. Mit einem freundlichen Lächeln dankt der Kirchenstifter, erfolgreiche Hutfabrikant und Gubener Ehrenbürger für unseren Besuch.