von Wolf-Rainer Marx

Ruine unter Dach

In Dolgelin weiß man sich zu helfen

Wolf-Rainer Marx, Informatiker, ist Mitglied im Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.

Foto: Archiv Norbert Trebeß
Dorfkirche Dolgelin, Innenraum (um 1920)

Am 25. Mai 2019 weihten in Dolgelin, südlich von Seelow gelegen, etwa 250 Fördervereinsmitglieder, Helfer, Sponsoren, Unterstützer, Einwohner und Gäste das leuchtend rote Kirchendach ein. Pfarrer Martin Müller sagte in seiner Andacht: Es ist ein gelungenes Werk entstanden, woran jahrzehntelang niemand geglaubt hat, mit diesem Dach ist es eine „Ruine unter Dach“.

Dolgelin wurde erstmals 1321 erwähnt. In der Urkunde ging es um den Verkauf einer Mühle; mit dem Erlös sollte der Ort von der Johanniter-Komturei Lietzen zurückgekauft werden. Er wird also im 13. Jahrhundert gegründet worden sein. Aus Granitblöcken, von der letzten Eiszeit zurückgelassen, wurden auf dem Dorfanger die sorgfältig gesetzten Mauern der Kirche errichtet, eines Saalbaus mit eingezogenem, gerade abgeschlossenem Chor. Im 16. Jahrhundert bekam die Kirche einen Turm. Eine Ecke des Turms stürzte 1867 ein. 1870 stand ein Backsteinturm vor dem Westgiebel, der höher war als der Turm der Stadtkirche von Seelow. Das Innere der Kirche war derb und ländlich, die Kirche eines Bauern- und Handwerkerdorfes.

Foto: Archiv Norbert Trebeß
Ruine der Dorfkirche Dolgelin (um 1950)

Dolgelin liegt an der Straße, die von den Seelower Höhen in Richtung Westen führt. Sie war deshalb in der Schlacht am 16. und 17. April 1945, die das Oderbruch verwüstete, heftig umkämpft. Zudem war der Bahnhof von Dolgelin das Hauptquartier einer deutschen Infanteriedivision. Die Frauen und Kinder des Dorfes waren schon im Februar nach Halbe evakuiert worden und die zurück gebliebenen Männer hörten in den Kellern, wie die Häuser und Ställe zerschossen wurden.

Bei Kriegsende kamen Flüchtlinge und Umsiedler nach Dolgelin und mehr als 800 Bürger (vor dem Krieg waren es 683) begannen den schweren Wiederaufbau. Bevor die Felder bestellt werden konnten, mussten die Toten geborgen werden. Bevor die Straßen befahren werden konnten, mussten die Trümmer beseitigt werden. Bevor die Häuser bewohnt werden konnten, mussten sie wiederhergestellt werden. Die Neubauernsiedlung hieß, nach ihrer Dacheindeckung, „Strohdorf“.

Die Kirche überstand den Krieg mit Einschusslöchern und zwei Treffern im Turm, der bei Beginn der Kämpfe nicht gesprengt worden war, anders als bei den meisten Kirchen im Oderbruch. Die Schäden am Schiff wurden ausgebessert und schon 1945 wieder Gottesdienste gefeiert, getraut und konfirmiert. Aber 1946 gestattete der Bürgermeister, die Dachziegel für die Wohnhäuser und die Schule zu verwenden. Damit war die Kirche zum Abriss freigegeben. Dachziegel, Dachbalken, die Einrichtung, Türen, die Bleiglas-Fenster verschwanden und wurden auch später trotz gründlicher Suche nicht mehr gefunden; nur die Taufschale blieb erhalten. Bei der Gelegenheit verbrannte man auch gleich alle Kirchenbücher. Weder im Ort noch in Archiven gibt es noch Unterlagen zur Kirche aus der Zeit vor 1945 (abgesehen von lückenhaften Kopien der Kirchenbücher von 1810 bis 1874 im Brandenburgischen Landeshauptarchiv). Die Gemeinde versammelt sich seitdem im Pfarrhaus. 1957 beschaffte sie zwei Hartguss-Glocken, die in einem Glockenstuhl vor dem Pfarrhaus hängen.

Weil Ziegel herabzufallen drohten, wurde der Turm, noch immer das selbstbewusste Wahrzeichen des Ortes, am 25. März 1965 gesprengt. Die allgemeine Meinung war allerdings, dass es genügt hätte, die Turmspitze abzutragen. Die Kirche bestand nunmehr aus vier schadhaften Mauern und zwei Schutthügeln und verschwand bald hinter Bäumen und Gestrüpp.

Der Turm verdeckte zwei kreisförmige Putzritzzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert, die nach der Sprengung wieder sichtbar waren. Die eine wird als der heilige Adalbert, Schutzpatron des Bistums Lebus, und die andere als Darstellung der „Ecclesia“ (Sinnbild der christlichen Kirche) gedeutet. Beide wurden in den 1980er Jahren konserviert.

1988 wurde endlich der Schutt weggeräumt, 1992 das Areal vom Wildwuchs befreit, die Mauern und der Ostgiebel saniert und für Veranstaltungen eine Bühne eingebaut.

Ruine der Dorfkirche Dolgelin (2004)

Seit 1921 gibt es im Ort einen Männergesangsverein. Er half, mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fertig zu werden und er half beim Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer neu ins Dorf kommt und dazugehören will, geht in den Verein. Siegfried Jaeger, ein „Neuer“, hatte bei einer Zusammenkunft im Oktober 2002 die Idee, die Kirchenruine mit einem Dach besser nutzbar zu machen – man spricht noch heute von einer „Schnapsidee“. Trotzdem gründeten am Nikolaus-abend 30 Dolgeliner in der eiskalten Ruine den Förderverein „Dorfkirche Dolgelin e. V.“. Vorsitzende wurde Heike Schulze, Kassenwart Michael Pfeiffer, beide haben diese Posten noch heute.

Die Dolgeliner kümmerten sich schon immer selbst: Weil der Ort in einer Senke an der Oderbruchkante liegt, standen die Felder und Keller oft unter Wasser. Deshalb gruben vor 200 Jahren die Bürger ohne Genehmigung und mit eigenen Mitteln den „Hohen Graben“, teilweise bis 15m tief, der das Wasser ableitete. Dieser Dolgeliner Geist wurde sofort herausgefordert. Von der Landeskirche kam die klare Aussage: Die Sanierung der Kirche wäre ein Neubau. Neue Kirchen brauchen wir nicht.

Man wollte mit dem Westgiebel anfangen. Unerwartete Hilfe schien vom Dorferneuerungsprogramm des Landesamtes für ländliche Entwicklung zu kommen. Mittel für den Wiederaufbau, hieß es, sind leichter zu erhalten, als Mittel für eine Sanierung. Die Gemeinde zeigte Interesse – sie wollte den Ortskern aufwerten und brauchte einen Raum für Veranstaltungen. Der Denkmalschutz zeigte Interesse – dank der Putzritzzeichnungen. Der große Wurf schien möglich, mit Sanitäranlagen, Emporen, Fußbodenheizung. Mit Hochdruck wurde projektiert. Die Zeit drängte, das Förderprogramm sollte 2005 auslaufen. Es wurde schon 2004 gestoppt und der Verein stand mit leeren Händen da. Die Kirche musste abgesperrt werden.

Foto: Bernd Janowski
Dorfkirche Dolgelin, Putzritzzeichnung aus dem 13. Jahrhundert

2007 hatte man sich vom Träumen verabschiedet und wollte wieder mit dem Westgiebel beginnen. 2008 beantragte die Kirchengemeinde Fördermittel bei der Lokalen Aktionsgruppe Oderland e. V. (LAG) in Wriezen. Die LAG bat noch um das Zusenden einer Word-Datei, bestätigte deren Eingang telefonisch und bat um Geduld. Als bis zum Jahresende keine Antwort kam, behauptete sie auf Anfrage, es läge gar kein Antrag vor. Beim Versuch, ihn erneut zu stellen, erklärte sie, dass nur Projekte gefördert werden, die regional abgestimmt sind. So viel Zeit gab der morsche Giebel den Dolgelinern nicht und sie mussten das Vorhaben ohne Unterstützung stemmen. Mit den Mitteln des Vereins, Zuwendungen von der Kommune Lindendorf, zu der Dolgelin seit 2003 gehört, mit der Baurücklage der Kirchengemeinde und dem Anteil am Verkauf des Pfarrhauses von Libbenichen kam die benötigte Summe zusammen.

2013 waren die Mauern verfugt, die Mauerkrone abgedeckt, der Eingangsbogen aufgemauert, die verbliebenen Turmpfeiler auf eine gleiche Höhe gebracht worden. In der sanierten Ruine feierte der ganze Ort den ersten Dolgeliner Weihnachtsmarkt.

Foto: Michael Pfeiffer
Dorfkirche Dolgelin mit neuem Dach (2019)

Das Unternehmen Prokon betreibt in der Umgebung der Gemeinde Lindendorf Windräder, teils recht nahe an den Häusern. Es revanchierte sich 2015 mit einem Sponsoringvertrag, aus diesem bekam der Förderverein 30.000 Euro zugeteilt. Das war der Anstoß für den Wiederaufbau des Daches und die Innensanierung der Mauern. Mit der Summe im Rücken sprachen die Mitglieder des Fördervereins jeden Bürger, Landwirt und Unternehmer im Dorf an. Zuerst wurden nur Zusagen eingesammelt. Jede Zusage stachelte die Spendenfreude der nächsten an. Das Geld wurde entsprechend dem Baufortschritt eingefordert. Und wenn die Spender sahen, dass z. B. das Gerüst steht und das Geld wirklich gebraucht wird, lösten sie die Zusagen auch ein, mit Beträgen von 30 bis 20.000 Euro. Wem es wirtschaftlich besser ging als vorher, der hat oft mehr gegeben und wem es schlechter ging, der hat trotzdem Wort gehalten. Die Gemeinde des ehemaligen Pfarrers Olaf Schmidt aus Falkenhagen-Falkensee spendete insgesamt 15.000 Euro. Weihnachtsmärkte und Veranstaltungen in der Kirche verschafften Einnahmen. Landeskirche und Land gaben wieder nichts. Trotzdem konnte die benötigte Summe von mehr als 200.000 Euro zusammengebracht werden. Lindendorfs Bürgermeister Helmut Franz hat mit seiner Baufirma seinem Heimatort ein sehr freundschaftliches Angebot gemacht.

Ein Turmfalkenpärchen verursachte noch mal eine Verzögerung von etlichen Wochen und eine „ökologische Baubegleitung“ im „Konzept zum störungsfreien Bauen zum Schutz der Weißstörche“ galt es auszuhandeln. Das Storchenpaar vom Ostgiebel hatte allerdings bereits seit 2009 ein neues Domizil auf einem Mast bekommen und es auch sofort angenommen.

Am 25. Mai 2018 wurde in der Kirche zum ersten Mal seit dem Kriegsende ein Paar getraut und am 1. Juni das Richtfest gefeiert. Alle Hindernisse endlich überwunden! Jubelte man, aber: Die Dachgebinde passten nicht. Die Architekten hatten falsch gemessen und die Baufirma glaubte, bei einer teuren Bauzeichnung nicht nachmessen zu müssen. Also wieder: Streit, Baustopp, Kosten, Genehmigungs-Aufwand. Man fand eine Lösung. Anfang Februar 2019 konnten die ersten Dachsteine aufgebracht – und natürlich mit einer Party gefeiert werden. Am 25. Mai 2019, fast ein Jahr nach dem Richtfest, wurde das Dach festlich eingeweiht.

Foto: Cornelia Mikat
Weihnachtsmarkt in der Dorfkirche Dolgelin (Dezember 2019)

Der Weihnachtsmarkt 2019 übertraf in den zwei Tagen erstmals die 10.000-Euro-Gewinn-Marke. Über 60 Händler, die nur Waren aus eigener Herstellung verkaufen durften, versorgten mehrere tausend Gäste, die durch insgesamt 13 Veranstaltungen unterhalten wurden, vom Programm der Kita „Dolgeliner Zwerge“ bis zum Ensemble „Seelenfänger“. Die Helfer, die 100 Bleche Kuchen brachten, Glühwein ausschenkten, den Verkehr regulierten usw. waren nicht zu zählen. Im Gottesdienst am Sonntag taufte Pfarrer Müller zwei Mitglieder des Fördervereins.Man hätte es bei einer repräsentativen Ruine auf dem Anger belassen, die Turnhalle der Schule für Veranstaltungen ausbauen und Geld und Mühe sparen können. Aber es haben sich die durchgesetzt, die wussten: Das Dorf braucht ein Zentrum, mitten im Ort. Es wird getauft, getraut und konfirmiert. Frühere Gegner und Skeptiker berichten, wie froh sie sind, in einer Kirche zu sitzen und Lieder zu hören, von denen sie glaubten, sie hätten sie längst vergessen. Schauspieler, Musiker und Kabarettisten, die in der Umgebung wohnen oder Sommerhäuser haben, werden wieder auftreten. Die Sonnenwende wird gefeiert. Der Weihnachtsmarkt wird wieder der Höhepunkt sein. Und vielleicht wird die nächste Einschulungsfeier in der Kirche gefeiert.

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