von Klaus Goebel

Raphael von Lindenhain

Ein Engel, der verschwand, wiederentdeckt wurde und darauf wartet, repariert und wieder unter die Decke gehängt zu werden

Prof. Dr. Klaus Goebel ist Historiker. Über viele Jahre begleitete er die von ihm durch die Gründung eines Fördervereins angestoßene Sanierung der Kirche St. Marien in Boitzenburg (Uckermark) durch Einwerbung von Spendenmitteln.

Foto: Bernd Janowski
Taufengel in der Dorfkirche Dauer (Uckermark)

Ich heiße Raphael von Lindenhain. Eigentlich nur Raphael, manchmal Rafael geschrieben. Ich bin in Lindenhain zu Hause, deshalb der Familienname. Das Dorf kennst du nicht. Es liegt irgendwo in Brandenburg.

Ich bin kein Mensch, sondern ein Engel. Engel kann man gewöhnlich nicht sehen, sondern von ihnen nur hören oder lesen. Zum Beispiel von der Menge der himmlischen Heerscharen in der Weihnachtsgeschichte, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.

Mich aber kann man sehen. Man kann mich anfassen und befühlen. Ich bin im Jahre 1702 auf die Welt gekommen. Die Vorgeschichte war folgendermaßen: An einem warmen Sommertag sind damals die Leute nach dem Gottesdienst noch vor der Kirche in Lindenhain stehen geblieben, um sich zu unterhalten. Frau Elisabeth Kühn sagt zu ihrem Mann Oskar: Bald wird unsere Enkelin Magdalene getauft. Ich hätte mir so sehr gewünscht, den Engel zu sehen, der sie ihr ganzes Leben begleiten soll.

Foto: Foto: BLDAM
Taufengel in der Dorfkirche Dobberzin (Uckermark)

Oskar Kühn antwortet: In Freyenstock habe ich einen Engel gesehen, der durch die Kirche schwebte. Seiner Frau Elisabeth bleibt vor Erstaunen der Mund offen stehen, so dass sie nicht antworten kann. Sie schüttelt nur den Kopf und schaut ihren Mann an. Der ruft laut zur Kirchentür hinüber, wo sein Freund Paul Schulze steht: Paul, komm mal her! Beide sind sie Schreinermeister und manchmal gemeinsam unterwegs, um neue Fenster einzusetzen, Türen zu reparieren und andere Holzarbeiten durchzuführen.

Paul, weißt du noch, wie in Freyenstock der Engel durch die Kirche schwebte?

Ja, der Engel mit dem grünen Kleid. Seine Flügel waren weiß und auf dem Kopf trug er goldene Haare.

Paul, das musst du mir näher erklären, ruft Frau Kühn so aufgeregt, dass einige Leute in der Nähe aufmerksam werden. Sie treten hinzu und hören die Geschichte, die Oskar Kühn und Paul Schulze erzählen.

In der uralten schönen Kirche von Freyenstock war vor dem Altar ein Engel aus Holz an der Kirchendecke aufgehängt worden. Bei einer Taufe lässt der Küster den Engel an einer eisernen Kette herunter schweben. Der Pastor füllt aus dem großen Taufstein die Taufschale, die der Engel in Händen hält, mit Wasser und tauft das Kind im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, benetzt das Köpfchen mit etwas Wasser, das über die Stirn herunter tropft und trocknet die Stirn mit einem weißen Tuch. Das Kind liegt in den Armen seines Vaters. Drum herum stehen die Mutter, die Patentante und der Patenonkel und ein kleines Mädchen. Das ist von ganz hinten in der Kirche nach vorn gelaufen, um alles besser zu sehen. Darüber schwebt der von der Decke herabgeholte Engel und sieht ebenfalls zu. Der Pastor spricht zum Kind, das seinen Mund etwas verzieht, als ob es weinen wolle: Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich auf allen deinen Wegen behüten.

Foto: BLDAM
Taufengel in der Dorfkirche Felchow

Ja, wir sind dabei gewesen, erzählt Oskar Kühn weiter. Er hatte mit Paul Schulze drei Tage lang die Kirchenfenster repariert, die ein Sturmwind beschädigt hatte.

Solch einen Taufengel hier bei uns zu haben, wäre doch schön, sagt Frau Kühn und blickt auf die Kirchentür, die der Küster gerade schließt.

Aber der kostet Geld, sagt ihre Nachbarin, Frau Hahnewetter, den können wir nicht bezahlen, wenn er schön geschnitzt und bunt angestrichen werden soll. Und erst die goldenen Haare. Unbezahlbar. Ob der Gutsherr, der Herr von Beerfeld, ihn bezahlen würde, der drüben im kleinen Schloss wohnt und schon fünf Kinder hier hat taufen lassen?

Die Leute beschließen, Oskar Kühn und Paul Schulze in den nächsten Tagen nach Feierabend zu Herrn von Beerfeld zu schicken. Dem gehören die größten Felder und viele Wälder und er besitzt deshalb auch das meiste Geld.

Foto: BLDAM
Taufengel in der Dorfkirche Hohenselchow (Uckermark)

Am Sonntag darauf treffen sich alle nach der Kirche wieder. Auch der Gutsherr ist da, tritt zu ihnen und sagt: Ich bin einverstanden und will das meiste bezahlen. Wer von euch ein paar Taler dazu legen will, möge das tun. Ich weiß auch einen Holzschnitzer, der oderabwärts in der Neumark lebt, in dem Städtchen Tauchnitz. Den will ich fragen, ob er einen schönen Taufengel schnitzt.

Gesagt, getan. Ein Jahr später, man schreibt das Jahr 1702 und der Oderfluss ist drei Monate vereist gewesen, hatte der berühmte Holzschnitzer Jochem Heinrich Mette mich vollendet. Ich bin aus Lindenholz geschnitzt. Das ist weich und empfindlich. Du brauchst mich nur mit einem Messer zu kratzen – au! – schon hast du einen Holzspan in der Hand.

Der Kunstmaler Christoph Moldenhauer, ein guter Freund von Schnitzmeister Mette, hatte mich wunderbar bemalt und ich trug ein grünes Gewand wie mein Kollege in Freyenstock. Nur meine Haare waren braun, nicht goldgelb. Damit man nicht jeden Fliegensch… sieht, hatte der Maler gesagt.

Foto: BLDAM
Taufengel in der Dorfkirche Walddrehna (Dahme-Spreewald)

Es war ein feierlicher Gottesdienst, als ich eingeweiht wurde. Alle die Bauern und Kossäten mit Feiergesicht sangen „Jesus meine Zuversicht“. Herr und Frau von Beerfeld ließen an diesem Tag ihr sechstes Kind taufen. Barbara Elisabeth Dorothea Wilhelmine, genannt nach Großmüttern und Patentanten. Gerade als der Pastor „Amen“ sagte, setzten sich zwei Fliegen auf meinen Kopf. Aber man sah hinterher nichts, ich hatte ja so dunkle braune Haare.

Schöne Jahre erlebte ich im Dorf Lindenhain. Schöne Jahre, wirklich. Wenigstens vorläufig war alles schön. Die Beerfelds ließen ihr siebtes, achtes und neuntes Kind taufen, die vielen Vornamen habe ich vergessen, ein Mädchen hieß jedenfalls Mimi, was eine Abkürzung von Wilhelmine bedeutete. Kühns und Schulzes wurden Großeltern. Immer wurde ich von der Decke herabgelassen.

So verging die Zeit. Die Enkel der Kühns und Schulzes wurden selbst Großeltern und freuten sich über deren Taufe. Doch irgendwann, viele Jahre später, so um 1890 herum, kam ein neuer, strenger Pfarrer nach Lindenhain, Friedrich Wilhelm Kannegießer. Als der mich das erste Mal sah, verdrehte er nur die Augen: Dieser kitschige alte Engel muss raus aus der Kirche! sagte er zum Küster. Der wollte zwar widersprechen, traute sich aber nicht so richtig. Traurig nahm er mich ab und brachte mich auf den Kirchenboden, wo er mich sorgfältig hinter einem Stapel überflüssiger Dachlatten versteckte.

So wurde ich auf dem Dachboden meiner Kirche vergessen. Regelrecht vergessen, als ob ich nicht mehr da gewesen wäre. Verschwunden und weg. Nur die Kirchenmäuse schnupperten ab und zu an meinem Gesicht herum, was jedes Mal ziemlich kitzelte. Die Schwalben, die Krähen und die Eulen, die ab und zu durch den Dachboden flogen und die Katzenkinder vom Kater Lolo, Katzenenkel, Urenkel und Enkelenkel mit vielen Ur davor erzählten mir, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten draußen passierte. Hätte der Malermeister Christoph Moldenhauer mich nicht mit Öl getränkt und nicht so gute Farben verwendet, wer weiß, ob ich nicht verfault wäre. Aber er war ein guter Meister und wusste, dass Farben und Öl auf dem Holz die Feuchtigkeit abhalten konnten.

Niemand von den Vögeln und Mäusen, die mich besuchten, hat mir übrigens sagen können, wie viele Jahre das genau waren. Auch ich selbst habe nie rechnen gelernt und weiß nur, wie mein Meister sagte, als er mich fertig hatte: Nun, Rafael, du bist ein schönes und teures Stück. Jetzt will ich mal berechnen, wie viel du kostest. Und Herr Jochem Heinrich Mette konnte rechnen. Rechnen konnte der, vor allem, wenn Geld zum Abzählen auf dem Tisch lag!

Es war im Jahre 2017, als wieder einmal mehrere Menschen auf den Dachboden kletterten und mich besichtigten. Ich weiß das Jahr deshalb, weil einem von ihnen ein Exemplar der „Märkischen Neuesten Nachrichten“ aus der Tasche fiel. Da wusste ich: es ist 2017.

Foto: Werner Ziems
Taufengel aus der Dorfkirche Wismar auf dem Operationstisch

Nun also bin ich entdeckt. Wie das kam, ist rasch erzählt. Eines Tages kam der neue Pastor mit fünf Konfirmanden auf den Dachboden. „Eine Entdeckungsreise machen“ nannten sie das. Oho! rief der neue Pastor, da steckst du also. Und er erzählte den Konfirmanden, sie hießen Helena, Sophie, Joschi, Jan und Max, er hätte in alten Kirchenpapieren gelesen, früher sei in der Kirche ein Taufengel unter der Decke aufgehängt gewesen, der jedoch längst verschwunden, vielleicht gestohlen oder verkauft worden sei. Oder weggeflogen, sagte Jan, der gern einen Witz machte. Alle lachten, der Pastor sogar ziemlich laut.

Die alte Eule im Kirchturm, die tagsüber schlief, hörte von all dem nichts. Erst als der Pastor sagte: Kinder, wir lassen ihn reparieren und hängen ihn wieder auf, was meint Ihr dazu? und alle fünf im Chor schrien: Jaaaah! da erst öffnete die Eule ihr rechtes Auge ein bisschen und kuckte ziemlich ärgerlich. Solch einen Krach war sie nicht gewöhnt. Alle Mäuse würden davor weglaufen, die die Eule doch so gern gefangen hätte.

Vielleicht gibt uns jemand Geld, sagte der Pastor weiter. Aber er sprach mehr zu sich selbst, weil die Konfirmanden ihm das ja nicht geben konnten und es sich vielleicht auch lieber für sich, ihre Räder und Smartphones wünschten. Vielleicht gibt uns der Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg Geld dafür oder die Deutsche Stiftung Denkmalschutz oder die KiBa-Stiftung oder eine Ministerin des Landes oder sogar ein zur Zeit noch Unbekannter, der mit seinen Euros andern eine Freude machen will, dachte der Pastor laut vor sich hin. Denn er hatte alle diese Namen einmal gelesen, als er früher schon überlegte, wie man endlich die Kirchenfenster dicht kriegen könnte. Irgendwo hatte jeder von denen schon einmal geholfen.

Foto: Bernd Janowski
Taufengel aus der Dorfkirche Zollchow im Depot des Prenzlauer Museums vor der Restaurierung

Und wer gibt uns das Geld? fragte Max, denn der Pastor hatte laut gedacht. Wenn du es nicht weißt, weiß ich es auch noch nicht, antwortete der Pastor, lächelte ein bisschen und schüttelte den Kopf. Max lächelte ein bisschen zurück, schüttelte den Kopf aber nicht. Er hatte eine Idee, verriet sie aber nicht.Wie es weiter geht, weiß ich nicht. Aber ich bin entdeckt, wiederentdeckt und finde es schön, dass man als Engel nicht vergessen worden ist, auch wenn es in all den Jahren ziemlich einsam war und mir die Krähen, Eulen und Kirchenmäuse keine Menschen ersetzen konnten, für die mich der Meister Mette aus Tauchnitz doch einmal geschnitzt hatte, damals.

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