von Rudolf Bönisch

Das unsichtbare Schmuckkästchen

Rubens reuige Magdalena bei Baroccis Grablegung Jesu in Lenzen

Rudolf Bönisch ist Diplom-Geologe. Er ist Initiator und Leiter zweier Niederlausitzer Orgelmusikreihen. In der verbleibenden Zeit beschäftigt er sich mit sakraler Kunst.

Foto: Rudolf Bönisch
Gemälde der Grabtragung Jesu nach Federico Barocci

St. Katharinen in Lenzen ist eine sehenswerte gotische Hallenkirche aus Backstein. Hier beeindrucken die aufstrebenden Pfeiler und der Blick zum Chorraum mit den drei spitzbogigen Farbglasfenstern und dem Altaraufsatz aus dem Jahre 1652. Dies gilt ebenso für das große Abendmahlgemälde nach Peter Paul Rubens mit dem goldenen Kelch und dem neben der Abendmahlsgemeinschaft abgebildeten Tisch mit der zwischen zwei Leuchtern aufgeschlagenen Bibel. Der Blick vom Altar zurück zeigt den Rokoko-Prospekt der wunderbaren Orgel des Wagner-Schülers Gottlieb Scholtze aus dem Jahr 1759. Mittelalterliche Wandmalereien, die in Braunschweig 1486 gefertigte Tauffünte, die restaurierten Bilder von Martin Luther und Philipp Melanchthon aus dem Jahr 1664, Grabsteine und Epitaphien ziehen die Blicke auf sich. Ein Epitaph fällt weniger auf, da es relativ hoch an der Nordwand des Chores aufgehängt ist. Es erinnert an den am 6.2.1677 verstorbenen Elias Stryke. Zwischen mit Trauben und Laubwerk umwundenen Säulen befindet sich ein großes Gemälde der Grabtragung Christi, an den Wangen Figuren der Tugenden Justitia (Gerechtigkeit) und Prudentia (Weisheit), darüber drei Engelsfiguren. Im oberen Teil ist ein Bildnis des Verstorbenen angebracht, der „Churfürstl. Brandenburgl. Amtmann, Zoll und Licent Einnehmer“ war, was die Schrifttafel unter dem großen Gemälde ausweist. Dort ist auch zu lesen, dass am 18.10.1678 seine hinterlassenen Söhne und Töchter das Epitaph gestiftet haben.

Foto: Rudolf Bönisch
Epitaph für Elias Stryke von 1678

Betrachten wir das 133 cm hohe und 84 cm breite Hauptgemälde. Die Evangelisten der Bibel berichten, dass nach dem Tod am Kreuz auf Golgatha Jesu zu Grabe getragen wurde. Joseph von Arimatäa, ein Bekannter von Jesus, fragte aus Furcht vor den Juden den Statthalter Pontius Pilatus, ob er den Leichnam Jesu vom Kreuz abnehmen dürfe. Pilatus erlaubte es und so nahm er zusammen mit einem Freund von Jesus den Leichnam ab. Nikodemus brachte Myrrhe und Aloe mit. Weiter wird berichtet, dass beide Männer Jesus in Leinentücher mit Spezereien legten. Sie brachten ihn in ein nahe von Golgatha liegendes Gartengrab. Dieses war völlig neu angelegt worden und noch niemand hätte darin gelegen (Joh. 19,38-42).

Auf dem Gemälde ist diese Grablegung Jesu, im eigentlichen Sinn nur die Grabtragung, zu sehen. Auf dem Berg Golgatha im Hintergrund ist das leere Kreuz zu erkennen. Von dort kommen Joseph von Arimatäa, Nikodemus und ein Helfer mit dem Leichnam. Das leere Grab links im Bild ist das Ziel ihres Weges. Joseph und Nikodemus tragen den in ein Leichentuch gehüllten Körper. Die Beine hält ein jüngerer Mann in rotem Kleid mit grünem Umhang. Traditionell wird so der Lieblingsjünger Johannes dargestellt. Es könnte sein, dass der Maler diesen Jünger Johannes auch ebenso aktiv an der Grablegung beteiligt wissen wollte, was indes etwas verwirrend wirkt. Denn hinter den Leichenträgern gibt es noch drei trauernde Personen. Das sind zwei Frauen, die ihr Haupt traditionsgemäß in ein Kopftuch gehüllt haben: Maria mit gefalteten Händen, die bei der Kreuzigung auf Golgatha mit dabei war, und die Schwester der Maria. Die dritte Person ist ein Mann mit längerem Haar, der vor sich ein Tränentuch hält. Bei diesem Mann kann es sich eigentlich nur wiederum um den Jünger Johannes handeln. Er steht dicht bei Maria, denn zu beiden hatte Jesus noch vom Kreuz gesprochen.

Foto: Rijksmuseum Amsterdam RP-P-H-M66
Kupferstich „Grabtragung von Egidius Sadeler

Vor dem offenen Grab sitzt prunkvoll gekleidet Maria Magdalena, die andächtig die Hände faltet. Auch sie war nach biblischer Überlieferung bei der Kreuzigung dabei. Im Vordergrund des Bildes ist noch eine Platte zu sehen, die zum Verschließen des Grabes genutzt werden könnte. Auf dieser Platte liegen Hammer, Zange und drei Nägel sowie die Dornenkrone. Weiterhin steht dort eine mit einem bestickten Tuch abgedeckte Schale, die wohl die Spezerei zur Totensalbung enthält. Das Gemälde zeigt im Hintergrund eine Turmfront, die Fassade des Palazzo ducale in Urbino, und weitere Gebäude. Diese deuten die nahe Stadt Jerusalem an.

Bei längerem Betrachten fällt auf, dass das Gemälde nicht ganz stimmig ist. Der zu Grabe getragene Christus nimmt zwar den Mittelpunkt des Bildes ein und die Einheit der mit der Grabtragung und Grablegung beschäftigen und der dicht dabei stehenden und trauernden Personen ist gegeben. Aber Maria Magdalena sitzt den schwer tragenden Männern Joseph, Nikodemus und dem Helfer direkt im Weg. Der Blick des Betrachters wird auch ihrer Kleidung wegen mehr auf sie als auf den toten Jesus gelenkt.

Das Gemälde ist keine Idee des namentlich unbekannten Künstlers. Der Maler hat sich vielmehr einen Kupferstich besorgt und nach diesem Vorbild das Gemälde geschaffen. Das war im Barock üblich. Darauf wurde bereits in den „Offenen Kirchen“ hingewiesen. Kupferstiche als Vorlage für Kirchengemälde waren auch nicht nur ein Trick von weniger begabten Malern. Auch angesehene Meister haben diese Methode genutzt.

Der Maler des Lenzener Bildes nutzte einen Kupferstich des niederländischen Stechers Egidius Sadeler (1570 – 1629), der wiederum ein Gemälde des Italieners Federico Barocci (1535 – 1612) wiedergibt.

Barocci hat das Gemälde in den Jahren 1579 bis 1582 für den Hauptaltar der Kirche „Chiesa della Croce“ in Senigallia (rund 50 km östlich von Urbino) geschaffen. Der Stich des Egidius Sadeler entstand in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts. Auch andere Maler haben diesen Stich zur Grundlage genommen und daraus Gemälde geschaffen. Betrachten wir diesen Kupferstich von Egidius Sadeler, so erkennen wir wieder die vom Epitaph-Gemälde in Lenzen beschriebenen Personen, den Hintergrund mit den drei Kreuzen auf Golgatha, dem Palast und der Stadt Jerusalem. Allerdings ist auf dem Stich die Unterscheidung zwischen dem jugendliche Mitträger des Leichnams und dem mit Maria trauernden Jünger Johannes klarer. Erst der Maler verteilt mit seiner Farbgebung, traditionell rosa und hellblau bei Maria und rot und grün für Johannes, die Rollen anders. Auch die rechte Seite des gegenüber dem Gemälde seitenverkehrten Stiches sieht anders aus als das Epitaph: Hier ist ein Mann mit der Reinigung des Grabes beschäftigt und davor kniet Maria Magdalena, den Blick auf Jesus gerichtet und ihn anbetend. Dies entspricht der Bildidee Federico Baroccis.

Magdalena aus dem Lenzener Epitaph-Gemälde

Auch wenn es im Bildaufbau keine wesentlichen Unterschiede zwischen Stich und Gemälde gibt, so hat dennoch der Maler des Epitaphs einen anderen Kupferstich für die Maria Magdalena verwendet und damit diese Frau gewissermaßen ausgetauscht. Er verzichtet überdies auf den mit der Reinigung des Grabes Beschäftigten. Als Vorlage für Magdalena konnte ein Kupferstich von Lucas Vorsterman gefunden werden, der in den Kupferstichkabinetten unter verschiedenen Titeln abgelegt ist. In Braunschweig heißt dieser „Maria Magdalena mit einer Gefährtin“, in Amsterdam wird der Titel „Maria Magdalena nimmt Abstand von ihrer Eitelkeit“ genannt und im englischen Sprachraum heißt dieser übersetzt „Die heilige Maria Magdalena zertrampelt ihre Wertsachen“. Der niederländische Zeichner und Kupferstecher Lucas Vorsterman (1595 – 1675) hat mit diesem 300 x 223 mm großen Stich aus dem Jahren 1622/23 ein Gemälde von Peter Paul Rubens (1577 – 1640) in Kupfer gesetzt. Rubens hat das Bild um 1620 mit dem Titel „Reuige Magdalena und ihre Schwester Martha“ gemalt. Das Original befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien. Dieses Gemälde wurde von verschiedenen Malern kopiert.

In Wien ist das Gemälde mit folgendem Begleittext ausgestellt: „Maria Magdalena, fälschlicherweise mit Maria von Bethanien, der Schwester Marthas, und mit der salbenden Sünderin identifiziert, erhielt in der gegenreformatorischen Andachtsliteratur besondere Bedeutung. Ihre Bekehrung galt als Beweis der Barmherzigkeit Gottes. Rubens macht die Reue Magdalenas, welche die Kassette mit Utensilien irdischer Eitelkeit umgestoßen hat, durch ihre verzweifelte Gestik und Mimik deutlich. Martha dagegen verhält sich zurückhaltend kontemplativ. Die gefühlvolle Stimmung vermittelt Rubens mit Hilfe einer weicheren, in manchen Teilen wie aufgelöst wirkenden Malweise.“

Warum hat nun der Maler des Epitaph-Gemäldes es für notwendig erachtet, zusätzlich zur Kopie eines Bildes aus dem katholischen Italien eine Magdalena einzufügen, die der bedeutendste Maler der katholischen Gegenreformation, Peter Paul Rubens, geschaffen hat? Warum wurde zudem die Bildaussage des Federico Barocci verändert, beziehungsweise sogar ein Stück vom zu Grabe getragenen Jesus weg und auf die reuige Magdalena hin gelenkt? War das ein Wunsch des Stifters? Oder welcher andere Einfluss lag dieser Gestaltungsidee zugrunde?

Foto: Rijksmuseum Amsterdam RP-P-OB-33.043
Kupferstich „Reuige Magdalena und ihre Schwester Martha“ von Lucas Vorstermann nach Peter Paul Rubens

Maria Magdalena ist neben der Mutter Jesu wohl die bekannteste Frau im neuen Testament. Sie stand unter dem Kreuz, ging zum Salben ans Grab und war die erste, der Jesus nach der Auferstehung erschienen war. Im Laufe der Jahrhunderte ist sie dann zur reuigen Sünderin geworden. So wurde sie mit der sündigen Frau gleichgesetzt, die Jesus in Bethanien salbte. Auch geschah eine Verwechselung mit der ägyptischen Büßerin Maria. All das hat das Bild der Maria aus Magdala geprägt und dieses ist auch in die christliche Kunst eingegangen. So ist die besondere Darstellung der Magdalena bei Barocci nur eine Vorstufe der reuigen Magdalena bei Rubens.

Auf jeden Fall ist die Kombination von Stichen aus unterschiedlichen Zeiten keine Seltenheit. Viele Maler im Barock haben so ihre Gemälde gestaltet. Sakrale Bilder nach Gemälden von Peter Paul Rubens sind in Deutschland auch keine Seltenheit. So sind Kopien seines Gemäldes des letzten Abendmahles, aber auch seine Anbetung der Hirten, die Kreuzabnahme und die Auferstehung Jesu sehr häufig in unseren evangelischen Kirchen zu finden. Eine Kopie seiner reuigen Magdalena finden wir noch in einer anderen Kirche. Das Kreuzigungsgemälde am Altaraufsatz in Schaprode auf Rügen zeigt sie vor dem Kreuz Jesu. Das dortige Gemälde basiert auf einem Motiv von Karel van Mander (1548 – 1606), die Kreuzesszene wurde durch dieselbe von einem Stich Schelte Adamsz Bolswert (1586 – 1659) nach Jacob Jordaens (1593 – 1678) ausgetauscht und die darin befindliche Magdalena wiederum durch die Magdalena von Peter Paul Rubens ersetzt. Aber auch im Kreuzigungsgemälde am Altaraufsatz in Herzsprung bei Angermünde wurde die unter dem Kreuz trauernde Magdalena nach Karel van Mander durch eine Magdalena aus einem Kupferstich der Kreuzabnahme Jesu des französischen Malers Charles Le Brun (1619 – 1690) ersetzt. Die Ersetzung einer Person – und im Lenzener Gemälde wird die betende Magdalena von Barocci „nur“ mit einer ebensolchen von Rubens ausgetauscht – als Wunsch des Stifters fällt damit wohl aus. So bleibt uns als Erklärung der künstlerische Zeitgeist oder die religiöse Bedeutung, die der Magdalena damals zugeschrieben worden ist. Während nachreformatorische Bilder sich meist streng an den biblischen Text halten, ist dieses bei der Darstellung von Magdalena nicht der Fall.

Schmuckkästchen aus dem Kupferstich von Lucas Vorstermann

Das umgestoßene Kästchen mit dem Schmuck und den Schminkutensilien hat der Lenzener Maler indes nicht mit auf sein Bild genommen. Was hätte dieses auch auf einem Grablegungsbild zu suchen? Durch die Kenntnis des Kupferstiches vom originalen Gemälde des gegenreformatorischen Rubens ist für uns als Betrachter des Epitaph-Gemäldes dieses schöne barocke Detail sichtbar. Der Besucher der Lenzener Stadtkirche sieht auf dem Epitaph im Chorraum somit etwas, was der Maler nicht gemalt hat.

Zur Kirche
Vorheriger Beitrag
Das Schiff muss warten

Die Wiederbelebung des Kirchturms in Brüsenhagen

von Susanne Gloger

Nächster Beitrag
Von Engeln behütet

Die Sanierung der Dorfkirche Pessin

von Andreas Flender