„Wenn die Religion endlich eingeschlafen ist, dann werden wir Kirchen besuchen!“
Plädoyer für die Bewahrung unserer Dorfkirchen
Bernd Janowski ist Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.
In seinem Roman „Der Nebelfürst“ erzählt der Schriftsteller Martin Mosebach die Geschichte eines Polarforschers, der als Bankrotteur und gescheiterter Betrüger endet. Am Schluss der Handlung entwickelt der Held des Buches – die Handlung ist im Jahr 1900 angesiedelt – den Plan, ein Reisebüro zu gründen. In seinen Zukunftsphantasien stellt er fest: „Zusehen … das ist die Zukunft.“ Die Menschen werden die Schlösser geköpfter Könige und abgesetzter Monarchen ebenso besichtigen wie die Schlachtfelder vergangener Kriege. Und dann lässt Mosebach seinen Protagonisten den Satz ausrufen: „Wenn die Religion endlich eingeschlafen ist, dann werden wir Kirchen besuchen!“
Wie weit sind wir heute von dieser Vision entfernt? Während die Zahl von kirchlichen Konzertbesuchern und Touristen zunimmt, geht die Zahl der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher kontinuierlich zurück.
Die Denkmalpflege der letzten drei Jahrzehnte bei den kirchlichen Bauten im Land Brandenburg ist eine Erfolgsgeschichte. Viel konnte für die Erhaltung und Instandsetzung unserer Dorfkirchen erreicht werden: Marode Dachstühle wurden repariert und Kirchendächer neu gedeckt, Fundamente trockengelegt, Fachwerkkonstruktionen instand gesetzt und Außenmauern neu verputzt.
Nach erfolgreicher Sanierung hört man in vielen Dörfern nun wieder pünktlich um 18 Uhr das Feierabendläuten der Kirchenglocken. Was jedoch hat uns dieses Läuten heute noch zu sagen? Ermuntert es die Menschen auch, zahlreicher die wunderbar instand gesetzten Kirchen zu besuchen? Oder wird der Klang der Glocken lediglich noch als stimmungsvoller Brauch oder als lästiger Lärm wahrgenommen?
Das Problem sowohl der Institution Kirche als auch der Denkmalpflege heute besteht nicht mehr darin, dass uns in großem Umfang Kirchengebäude durch gravierende Bauschäden verloren zu gehen drohen – sondern in der Frage, wer in zehn oder zwanzig Jahren überhaupt noch in diese Kirchen hineingeht. Bereits heute gibt es nicht wenige Dorfkirchen in den berlinfernen Regionen, die nicht mehr oder nur noch äußerst sporadisch gottesdienstlich genutzt werden.
Im Kirchenkreis Uckermark – der den Ostteil des gleichnamigen Landkreises und damit im Wesentlichen die Altkreise Prenzlau und Angermünde umfasst – lebten 2015 ca. 87.000 Einwohner. Davon gehörten etwa 13.000 der evangelischen Kirche an; das sind weniger als 15 Prozent. Etwas mehr als die Hälfte der gegenwärtigen Gemeindeglieder sind 65 Jahre und älter. Während der ersten zwanzig Jahre nach der so genannten Wende ging der Anteil der Gemeindeglieder an der Bevölkerung um 38 Prozent zurück; die Zahl der Pfarrstellen sank in der gleichen Zeit um 60 Prozent. Bei diesen Zahlen ist es erstaunlich, wie präsent Kirche in dieser Region noch ist, was wesentlich auch auf die hohe Zahl von Ehrenamtlichen in den Gemeinden zurückzuführen ist.
Was jedoch bedeuten diese statistischen Angaben für Gegenwart und Zukunft unserer Kirchengebäude? Nach einem Erfahrungsbericht von Jens Radtke, dem Baubeauftragten des Kirchenkreises Uckermark, „gibt es derzeit 16 Kirchen, die gar nicht mehr genutzt werden oder die nur noch zu Beerdigungen (oder sehr seltenen Taufen oder Hochzeiten) aufgeschlossen werden“. Mit Blick auf die Anzahl und das hohe Alter der Gemeindeglieder prognostiziert Jens Radtke, dass die Zahl der ungenutzten Gotteshäuser im Kirchenkreis in absehbarer Zeit auf 40 bis 45 ansteigen könnte. „Daraus ist nicht zu schließen“, so Radtke weiter, „dass alle diese Kirchen akut in ihrem Bestand gefährdet wären. Es gibt auch Dorfkirchen, die vor wenigen Jahren gründlich saniert wurden und nun keine Gemeinde mehr haben.“
Der Förderkreis Alte Kirchen weist seit einigen Jahren auf die Folgen des demographischen Wandels und der zunehmenden Säkularisierung in den ländlichen Gebieten für die Kirchengebäude hin. Noch scheint die Brisanz dieses Themas jedoch in den kirchlichen Gremien nicht im vollen Umfang ernst genommen zu werden. Der Spruch aus Matthäus 18,20: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ scheint manchmal durchaus der Selbstberuhigung zu dienen – auch wenn die erwähnten zwei oder drei nur noch einmal im Quartal auf den Kirchenbänken Platz nehmen.
Die Zahl der ungenutzten Kirchengebäude wird in den nächsten Jahren zunehmen. Mit den Folgen sind nicht nur die Gemeinden konfrontiert. Wenn das in der Regel markanteste Gebäude des Dorfes und der zumeist letzte verbliebene öffentliche Raum des Gemeinwesens ungenutzt verfällt, betrifft das die gesamte Gesellschaft. Zurzeit ist es noch möglich, gemeinsam an Konzepten zur Vermeidung des Leerstands und zum Umgang mit tatsächlich temporär nicht benötigten Kirchen zu arbeiten. In ein paar Jahren wird es indes nur noch hektische Einzelfallentscheidungen geben. Bereits jetzt wird in etlichen Gemeinden darüber nachgedacht, sich von „überflüssigen“ Kirchengebäuden zu trennen.
Auch wenn es sich im ersten Augenblick seltsam anhört: Es ist nicht die alleinige Aufgabe der Institution Kirche, die Erhaltung denkmalgeschützter Sakralbauten zu gewährleisten und zu finanzieren. Wenn es ein gesellschaftliches Interesse an der Bewahrung der sakralen Denkmaltopographie gibt – und das setze ich voraus – dann muss eine gesellschaftliche Mitverantwortung für die Bewahrung dieses Erbes sich zwangsläufig daraus ergeben. Eine breite Verantwortungsgemeinschaft ist notwendig. Kirchengemeinden, Kommunen, Fördervereine und Kulturträger sollten sich vor Ort viel öfter und viel intensiver in einen Dialog begeben, um gemeinsam über die Zukunft des in der Regel wichtigsten Gebäudes im Gemeinwesen zu beraten.
In zahlreichen Dörfern haben in den vergangenen Jahrzehnten, oft unterstützt durch den Förderkreis Alte Kirchen, lokale Fördervereine wesentlich dazu beigetragen, Kirchengebäude zu sichern, instand zu setzen und durch vielfältige kulturelle Aktivitäten für Besucher zu öffnen. Leider ist bei etlichen dieser Vereine ein ähnliches Phänomen zu beobachten wie in den Kirchengemeinden: Die wirklich aktiven Mitglieder werden älter und finden keine Nachfolger, die ihre Arbeit fortsetzen. Mehrere Initiativen haben sich aus diesem Grunde bereits aufgelöst.
Es ist eine Binsenweisheit, dass sich Kirchengebäude und Kirchenräume nur dann langfristig erhalten lassen, wenn sie genutzt werden. Und diese Nutzung beginnt bereits damit, die Kirchen offen zu halten. Mit unserer bereits vor zwanzig Jahren begonnenen Aktion „Offene Kirchen“ und der zugehörigen Broschüre möchten wir dazu beitragen!
Wenn ich hier von der Öffnung der Kirchen spreche, meine ich jedoch nicht nur das Aufschließen der Türen für Besucher und Touristen. Langfristig wird die Kirche im Dorf (und natürlich auch in der Stadt) nur dann eine Chance haben, wenn sie im Sinne des Bonhoefferschen Kirchenverständnisses „Kirche für andere“ ist. „Die Kirche“, schrieb Dietrich Bonhoeffer, „ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist, … Sie muss an den weltlichen Aufgaben des Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ In einer Zeit, in der sich der Staat aus immer mehr vermeintlich „freiwilligen Aufgaben“ – speziell im kulturellen Bereich – zurückzieht, muss die Kirche auch für Menschen da sein, die nicht zu den „zahlenden Mitgliedern“ gehören.
Bei einer fortschreitenden Ausdünnung des Prinzips der pfarramtlichen Versorgung wird dies jedoch nur schwer möglich sein. Bereits jetzt ist es schwierig, manchmal sogar unmöglich, Bewerber für ausgeschriebene Pfarrstellen jenseits des sogenannten Speckgürtels zu finden. Ob der Einsatz eines Segensroboters der Serie „Bless U-2“, der im Rahmen des Reformationsjubiläums 2017 in Wittenberg vorgestellt wurde, ein adäquater Ersatz für fehlende Pfarrerinnen und Pfarrer sein kann, wage ich zu bezweifeln.
Wir leben in einer Zeit, in der der Sinn einer Sache ausschließlich in ihrem Nutzen gesehen wird, das heißt in ihrer Anwendung zum eigenen Vorteil. Und so wird auch die Frage nach dem Erhalt und der Bewahrung von Kirchengebäuden schnell zu einer nüchternen Kosten-Nutzen-Analyse. Ich möchte jedoch dafür plädieren, auch derzeit nur selten oder überhaupt nicht genutzte Kirchen nicht leichtfertig aufzugeben. Gegenüber Bauwerken, die Jahrhunderte überstanden haben, sollten wir nicht in hektischen Aktionismus verfallen und uns etwas mehr Gelassenheit gönnen. Nach Zerstörungen in Not- und Kriegszeiten waren es zumeist als erstes die Kirchengebäude, die wieder aufgebaut wurden und das in wirtschaftlich wahrlich schlechteren Zeiten als den unseren. Gebäude, die im Augenblick nicht benötigt werden, können mit recht bescheidenen Mitteln notgesichert und in den „Wartestand“ versetzt werden. Hier stellt sich dann auch die Frage, ob es nicht kontraproduktiv ist, Kirchengemeinden, die im Besitz von nicht oder nur selten genutzten Gotteshäusern sind, mit einer Instandhaltungsrücklage in nicht unerheblicher Höhe zu belasten. Motiviert das die Gemeinden nicht eher dazu, sich von ihren Sorgenkindern endgültig zu trennen?
Kirchengebäude, speziell unsere Dorfkirchen, verkörpern Heimat. Heimat wird erst dann wichtig, wenn sie droht, in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt verloren zu gehen. In Zeiten, in denen immer mehr Einrichtungen und Kulturträger aus der Fläche verschwinden, sollten unsere Kirchengebäude bewusst ein Zeichen für Beständigkeit setzen. Wir sollten uns die christliche Hoffnung bewahren, dass in dem einen oder anderen Dorf eine Gemeinde wieder wächst. Genügend Beispiele dafür gibt es. Auch sollten wir es uns nicht versagen, stolz zu sein auf das, was in den letzten Jahrzehnten bei der Bewahrung unserer Kirchen geschafft wurde.
Das heißt jedoch nicht, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, dass der liebe Gott alles richten wird. Der Förderkreis Alte Kirchen sieht es als seine dringende Aufgabe an, Zukunftsperspektiven für unsere zahlreichen historischen Kirchengebäude zu finden. Wir sind bereits mit Partnern im guten Gespräch; seine Intensität ist jedoch durchaus noch ausbaufähig.
In einem seiner Gedichte schrieb der Lyriker Reiner Kunze den wunderschönen Satz: „Damit die Erde hafte am Himmel, schlugen die Menschen Kirchtürme in ihn.“ Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass auch weiterhin die Erde am Himmel haftet. Unsere Dorfkirchen sind dafür die besten Garanten. Sie werden noch gebraucht!