Der melancholische Optimist
Ist Berthold Schirge als Landpfarrer ein Auslaufmodell?
Konrad Mrusek ist Journalist und einer der Regionalbetreuer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.
Als Landpfarrer bin ich eine aussterbende Spezies“, sagt Berthold Schirge, „denn die meisten jungen Kollegen leben nicht mehr so gern im Pfarrhaus auf dem Dorf, sie wollen lieber in die Stadt und von dort wie andere Berufspendler zur „Arbeit“ fahren.“ Man spürt die Wehmut des 63 Jahre alten Pastors, der sonst gewiss nicht zu Sentimentalitäten neigt. Denn Schirge liebt die Lebensform des Landpfarrers, der wie einst der Landarzt oder der Dorfschullehrer seine „Schäfchen“ noch beim Namen rufen kann. „Ein Pastor muss seine Leute kennen“, versichert er. „Den Menschen auf dem Lande ist die persönliche Bindung wichtig. Wenn die fehlt, kann es schon passieren, dass auch bei einem Gemeindemitglied zur Beerdigung lieber ein säkularer Trauerredner geholt wird.“
Seit über drei Jahrzehnten wirkt Schirge in Papenbruch (Landkreis Ostprignitz-Ruppin) und predigt inzwischen in den Kirchen von dreizehn umliegenden Dörfern, die allesamt zu seinem Pfarrbereich gehören. Als Schirge die Pfarrstelle noch in der DDR-Zeit übernahm, gab es im ehemaligen Kirchenkreis Wittstock noch neun ländliche Pfarrstellen, heute sind es nur noch zwei. Wenn er sämtliche Gotteshäuser aufsuchen will, dann hat er in der dünn besiedelten Ostprignitz zwischen Wittstock und Neuruppin am Ende etwa 50 Kilometer mehr auf dem Tacho. Für die schweren Kirchenschlüssel benötigt er einen Korb, der gut und gerne fünf Kilogramm wiegt.
In Papenbruch sieht es immer noch so aus, wie man es aus der schönen Tradition des deutschen Landpfarrhauses kennt. Das Haus mit seinen Biberschwanz-Dachziegeln steht nicht weit von der Kirche entfernt. Margitta Schirge, Mutter von fünf längst erwachsenen Kindern, leitet nicht nur das Pfarrbüro, sie hat hinter dem Pfarrhaus auch maßgeblich mit dazu beigetragen, dass dort mit Mitteln des Landes Brandenburg (ILE-Förderung) der „Schaugarten Arche“ entstand, der im Sommer als grünes Paradies viele Besucher anlockt. Das Pfarrhaus stammt aus dem Jahre 1819, und wie es damals nun einmal üblich war, hatte der Landpastor selbstverständlich Gesinde, das für die Arbeiten in Haus, Hof, Garten und auf dem Feld zuständig war. Daher gibt es noch immer viele und auch große Räume im Pfarrhaus. In alten Akten kann man nachlesen, dass der Knecht einst in einer Kammer neben dem Pferdestall schlief, und die zwei Mägde lebten unter dem Dach. Der Vorgängerbau des heutigen Pfarrhauses war übrigens das Geburtshaus des märkischen Orgelbauers Friedrich Hermann Lütkemüller, der später in Wittstock seine Werkstatt hatte.
Bei aller Melancholie über das drohende Ende der gerade in Deutschland so wichtigen Pfarrhaus-Tradition (die dem Land viele Dichter und Denker bescherte) und angesichts der Entleerung der Kirchen besonders im Osten will Schirge dennoch nicht zum Untergangs-Propheten werden. „Ich bleibe trotz allem ein Optimist“, beteuert er. „Die Kirche wird zwar demnächst ein kümmerlicheres Dasein führen, aber nicht in jedem Dorf aussterben. Sie wird nicht wie bisher als hierarchisch organisierte Volkskirche, sondern nur als Gemeindekirche, als mündige Gemeinde überleben – sofern sich genügend gut geschulte Ehrenamtliche finden, die stärker als bisher den geistlichen Zusammenhalt bewahren.“
Schon jetzt könnte Schirge seinem Amt nicht Genüge leisten, wenn es die Ehrenamtlichen nicht gäbe, wenn Vorsitzende der Gemeindekirchenräte oder Kirchenälteste nicht einen Teil der Aufgaben übernähmen. Das gilt nicht allein für Förderanträge bei Sanierungen oder für Geburtstags-Besuche bei Kirchenmitgliedern, sondern auch für die Gottesdienste. So gab es Heiligabend 2018 zwischen Kaffeetafel und Bescherung in seinem Pfarrbereich nicht weniger als zehn Gottesdienste; sieben wurden von Lektoren oder Prädikanten gehalten. Schirge schafft es nicht einmal mehr, bei jeder Sitzung eines Gemeindekirchenrates anwesend zu sein. Denn es gibt noch neun solcher Gremien in seinem Bereich, die sich in der Regel monatlich treffen.
Als überzeugter Landpfarrer war Schirge bereit, seinen Gemeinden zur Seite zu stehen, als vor elf Jahren die Kirchenleitung nach langen Debatten im Kirchenkreis beschloss, größere Gesamtkirchengemeinden zu bilden. Außer den Dörfern um Papenbruch, Herzsprung und Königsberg waren es zehn weitere Kirchengemeinden, die sich gegen diese Konzentration wehrten. Man zog bis vor das kirchliche Verwaltungsgericht und bekam nach langem Kampf Recht. Das Kämpferische scheint in der Familie zu liegen: Sein Bruder Benedikt, der ebenfalls Pfarrer ist, kämpfte als Mitbegründer und Sprecher der Bürgerinitiative „Freie Heide“ erfolgreich gegen das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide.
Im Nachhinein ist Schirge davon überzeugt, dass sein Aufbegehren gegen die kirchliche Zentralisierung richtig war. „Der Kampf gegen die Zwangsfusion hat in den Gemeinden viel Solidarität erzeugt“, sagt Hartwig Herm, der Vorsitzende des Gemeindekirchenrates Blandikow. Das kirchliche Leben sei im Pfarrbereich Papenbruch erheblich aktiver, das ehrenamtliche Engagement größer als in den zusammengewürfelten Gesamtkirchengemeinden. Dort hätten viele resigniert, meint Herm. Wenn es dagegen in Blandikow in der Adventszeit ein Benefizkonzert gibt, ist die schön dekorierte Kirche rappelvoll und die Gemeinde hat 5.000 Euro an Spenden in der Kasse. Viele Gotteshäuser und Orgeln im Pfarrbereich sind in erstaunlich gutem Zustand. In der Saalkirche von Jabel wurde bereits vollendet, was in Fretzdorf noch bevorsteht – die Innenrenovierung. Der Förderkreis Alte Kirchen hat dafür bereits seine Unterstützung zugesagt.
Schirge rechnet damit, dass es bei seiner Pensionierung im September 2021 schwer sein dürfte, einen Nachfolger für den Pfarrbereich zu finden. Die Aufgabe eines Wanderpredigers auf dem flachen Land sei eben nicht attraktiv. Vermutlich werde Papenbruch auch nur noch eine halbe Pfarrstelle zugestanden. Für diesen Fall hat er vorgesorgt: Er engagierte im Frühjahr einen Mitarbeiter im missionarischen Dienst, der vom örtlichen Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) „Blip“ (Blandikow, Liebenthal, Papenbruch) angestellt ist. Dieser Verein wurde vor einigen Jahren mit Hilfe eines Spenderkreises gegründet, um in den Gemeinden Aktivitäten für Kinder und Jugendliche zu entfalten. Es gibt zum Beispiel einen regelmäßigen Kindernachmittag und Spieltage in den Ferien. Zum Angebot gehört auch ein Männer-Stammtisch. In einigen Dörfern wird zudem nachmittags für Senioren ein Bibel-Kaffee organisiert. In Jabel, einem kleinen Dorf mit gleich zwei Kirchengebäuden, gibt es inzwischen eine erfolgreiche und fruchtbringende ökumenische Zusammenarbeit mit der zahlenmäßig stärkeren altlutherischen Gemeinde. Regelmäßig lädt man sich gegenseitig zum Gottesdienst ein.
Wie wichtig Mission sei, erkennt Schirge auch daran, dass in der Ostprignitz selbst getaufte Kinder später noch zur Jugendweihe gehen, weil sie sich nicht von den Gleichaltrigen ausschließen wollen. „Wir müssen missionarische Arbeit lei-sten“, sagt Schirge, „es bleibt uns nichts anderes übrig, denn eine volkskirchliche Weitergabe des Glaubens findet nicht mehr statt.“ Wenn die Menschen nur noch Heiligabend in die Kirche kommen, dann stirbt der Glaube auch bei den Kindern. Allein mit Gottesdiensten erreiche man die Menschen nicht mehr, da brauche es andere Formen der Begegnung, Möglichkeiten miteinander ins Gespräch zu kommen und sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Man müsse auch mehr Musik und Kultur sowie Gottesdienste in veränderter Form anbieten. Dass Pfarrer Berthold Schirge auf dem richtigen Weg sein könnte, zeigt die große Zahl ehrenamtlicher Helfer, die in seinem Pfarrsprengel dazu beitragen, dass die Kirche im Dorf bleibt.