Das neue Turmkreuz über der Warft
Die Kirche von Kietz feiert gleich drei Jubiläen
Eva Gonda ist Journalistin.
Die Dorfkirche von Kietz in der Prignitz feiert in diesem Jahr ihr 125-jähriges Bestehen und ihren dreißigsten Geburtstag. Mit dem Mauerfall 1989 hatte für das damals abrissreife Gotteshaus ein neuer, hoffnungsvoller Zeitabschnitt begonnen. Und noch ein drittes Jubiläum kommt dazu: Der Förderverein Kietzer Kirche wurde vor nunmehr zwanzig Jahren gegründet, und ohne den wiederum gäbe es die anderen beiden Jubiläen überhaupt nicht.
Die St.-Johannis-Kirche ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich. Der stattliche neuromanische Backsteinbau macht eher den Eindruck eines städtischen Gotteshauses als den einer einfachen Dorfkirche in dünn besiedeltem Raum. Die Kirche liegt weitab vom Ort auf einer Warft inmitten der Elbaue und bietet gut 500 Plätze. Doch hält man von hier oben Ausschau nach potentiellen Besuchern, muss man lange suchen, um ein Wohnhaus zu entdecken. Erklärlich wird das, wenn man weiß, dass Kietz nur einer von drei Ortsteilen der Gemeinde Lenzerwische ist. Die Siedlungen reihen sich entlang der Elbe, und die Kirche errichtete man einfach dort, wo sie von allen Seiten am be-sten zu erreichen ist.
Drei Schicksalsschläge hatten die Kietzer Sakralbauten in der Vergangenheit getroffen: Zunächst kam ein Hochwasser und schwemmte die erste Kirche hinweg, dann ein Blitzschlag, der 1888 die zweite, einen Fachwerkbau von 1703, in Schutt und Asche legte; sechs Jahre später stand der Neubau. Und dann kam die DDR. Mit den Sicherungsmaßnahmen an der innerdeutschen Grenze entlang der Elbe lag das nunmehr dritte Gotteshaus im Sperrgebiet. Man konnte von weitem zusehen, wie es langsam verfiel. Schließlich wurde es wegen Einsturzgefahr gesperrt.
Heute steht die Pforte der perfekt sanierten und restaurierten Kirche offen. Hier treffen wir zwei, die den Verfall miterlebten, am Wiederaufbau wesentlichen Anteil hatten und nach wie vor mit ganzem Herzen dabei sind: Sigrid Tietz, Gründungsmitglied des Fördervereins Kietzer Kirche und über viele Jahre dessen Vorsitzende, und Dr. Andreas Draeger, der sich als langjähriger Vorsitzender des kreiskirchlichen Bauausschusses beharrlich für die Rettung der Kirche engagierte. Mut und Gottvertrauen muss den beiden und all ihren Mitstreitern bescheinigt werden, wenn man auf den schweren Anfang blickt.
Seit Jahrzehnten hatten notwendige Reparaturen unterbleiben müssen. Baumaterialien waren von staatlichen Stellen verweigert worden, entsprechende Fahrzeuge wurden ins Sperrgebiet nicht eingelassen. Mutige Anwohner schmuggelten im Kinderwagen Kleinteile durch die Kontrollen. Doch das alles konnte den Verfall nicht aufhalten. Das Dach wurde undicht, Wasser drang ins Gebäude, Hausschwamm breitete sich aus. Die Glocken schwiegen schon lange, sie hätten wohl alles einstürzen lassen.
Nach der Wende stand die Frage nach der Zukunft des Kirchengebäudes im Raum. Am Stammtisch, wo sich alle am Gemeinwohl Interessierten regelmäßig trafen, wurde viel diskutiert. Schließlich gab es den Vorschlag, die Kirche abzureißen und durch eine kleine Kapelle auf dem umgebenden Friedhof zu ersetzen. Dieser Gedanke aber brachte dann doch Einige in Rage. „Das können wir nicht zulassen, das können wir unseren Kindern nicht antun“, appellierten sie mit Nachdruck. „Das war 1999 der entscheidende Schub für die Gründung unseres Fördervereins“, erzählt Sigrid Tietz. „Wir wollen das Erbe der Vorväter annehmen und es gut erhalten an unsere Nachfahren weitergeben.“
Als Signal für den Aufbruch glänzte schon nach wenigen Monaten das neue Turmkreuz über der Warft. Im Ort hatten Förderkreis und Kirchengemeinde inzwischen alles in Bewegung gesetzt, was dem anspruchsvollen Vorhaben dienlich sein konnte. Kaum waren die Sicherungsarbeiten beendet und die Einsturzgefahren gebannt, wurde der Raum auch wieder gut genutzt sowohl für Gottesdienste als auch für Veranstaltungen, deren Erlös der Baufinanzierung zugute kam. Jeder wusste sich einbezogen in die weiteren Schritte. Als die hohen Bleiglasfenster restauriert werden sollten, gingen Vereinsmitglieder mit den Kostenvoranschlägen von Tür zu Tür auf Patensuche. Große und kleine Spenden trafen ein; die Restaurierung der Fenster und aller Türen wurde allein vom Förderverein finanziert. Ein nächstes großes Ziel war die Wiederherstellung der Wandmalereien aus der Bauzeit der Kirche, so die Vorhangmalerei im Altarraum, Bibelzitate, florale Elemente und Schmuckbänder, die den ganzen Raum durchziehen. Anhand von Resten der originalen Ausmalung wurden sie behutsam ergänzt. Restauriert präsentieren sich heute ebenso Altar und Kanzel, die noch aus der barocken Ausstattung der Vorgängerkirche stammen.
Als nach zwei Jahren Vorbereitungen und 13 Jahren Bauzeit der vorläufige Abschluss der Arbeiten gefeiert wurde, war eine beachtliche Bilanz zu ziehen: 319.000 Euro hatte die Sanierung bis dahin gekostet. „Diese Summe wurde zu 90 Prozent aus der Region erbracht“, sagt Dr. Andreas Draeger mit berechtigtem Stolz. „Die Finanzierung trugen weitgehend die Kirchengemeinde, der örtliche Förderverein und der Kirchenkreis, aber auch der Landkreis, die Sparkassenstiftung, der Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg und die Landeskirche.“ Weder Land noch Bund hatten etwas für die Rettung der im Grenzgebiet vernachlässigten Kirche beigesteuert.
Was diese Zahlen nicht erzählen, verdient dennoch an die große (Kirchen-)Glocke gehängt zu werden: Mit dem Wiederaufbau ihrer Kirche – das allein schon eine beachtliche Leistung – ist auch das Miteinander der Dorfgemeinschaft noch einmal gewachsen, ist ihr Leben reicher und vielfältiger geworden. Der inzwischen denkmalgeschützte Bau ist heute auch Kulturkirche der Region.
Da haben sich die „Himmlischen Laienspieler der Lenzerwische“ zusammengefunden, eine fröhliche Truppe, die nicht nur das alljährliche Krippenspiel in der eigenen Kirche gestaltet, sondern auch mit Theateraufführungen durch die Nachbarschaft zieht. Da locken Erntedankgottesdienste, Hubertusmessen, Adventsbasare Besucher aus der ganzen Umgebung an.
Konzerte in der Kirche mit ihrer ausgezeichneten Akustik unter dem hohen offenen Dachstuhl sind hoch geschätzt. Selbst das renommierte Ensemble „I CONFIDENTI“, das mit seinen szenischen und musikalischen Aufführungen auch im Ausland bekannt ist, gastiert hier gern. Kietz kann sich heute rühmen, bei Veranstaltungen oft Besucher aus drei Bundesländern zu begrüßen. Der kleine Ort am äußersten nordwestlichen Zipfel Brandenburgs hat sich mit seiner Kulturkirche im angrenzenden Mecklenburg und Niedersachsen einen Namen gemacht.
Dass alle Erlöse nach wie vor der Erhaltung des Kirchengebäudes zugute kommen, versteht sich von selbst. Andreas Draeger denkt an die Kosten für die endgültige Grundsanierung des Daches, die demnächst ansteht, und Sigrid Tietz träumt davon, dass die jetzige Orgelattrappe einmal durch ein richtiges Instrument ersetzt wird. Irgendwann einmal, das soll die Zeit bringen. In Kietz hat man einen langen Atem, bewiesen in vielen arbeitsreichen Jahren, an deren Ende der Erfolg steht.