Kirche im Umbruch
Ein Gespräch mit Christian Stäblein
Die Reformation vor 500 Jahren, deren Jubiläum wir in diesem Jahr begehen, war nicht nur ein religiöser Umbruch, in dem die Einheit der christlichen Kirche zerbrach. Mit Martin Luther und der Erfindung des Buchdrucks gab es zugleich einen Kulturbruch, entstand eine Welt beschleunigten Wandels, der über die Renaissance und die Aufklärung in die heutige Moderne führte. Erleben wir heute womöglich auch eine Art Kulturbruch, eine säkulare Zeitenwende, in der aus ehemaligen Volkskirchen Minderheiten-Konfessionen werden? Christian Stäblein, der Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), empfindet solch einen historischen Vergleich als nicht völlig abwegig, kann gewisse Parallelen entdecken. „Die Reformation war ein Um- und Aufbruch, und in diesem Begriff ist ja das Wort Bruch enthalten. Auch wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in der sich vieles ändert. In der Reformation war es der Buchdruck, der die Schriftkultur veränderte, nun haben wir wieder einen medialen Umbruch, stecken mittendrin in einer digitalen Revolution, bei der wir überhaupt nicht absehen können, wo wir in 20 oder 50 Jahren wirklich sein werden.“ Ein Indiz für den Umbruch sei zum Beispiel die kontroverse Debatte darüber, wie sehr auch die Kirche sich mit dem „Godspot“ für Smartphone-Nutzer öffnen sollte.
Zum Reformationsjubiläum wird es in Wittenberg diverse Veranstaltungen und in Berlin einen Kirchentag geben. Zudem kamen und kommen etliche Luther-Bücher auf den Markt. Doch wird es über die Zelebration des Jubiläums hinaus geistige oder gar geistliche Anstöße für die Kirche geben? Der Propst ist kein Pessimist, er glaubt, dass die 500-Jahr-Feier helfen kann, neuen Schwung in die Verkündung des Evangeliums zu bringen, wie es auch in der Reformation geschah. „Es kommt darauf an, das Evangelium auch in der jetzt anbrechenden Medienkultur zu positionieren. Wir sollten uns darin üben, Gottes Wort auf eine neue Art zu verkünden, neue Wege zu suchen.“ Gleichwohl müsse das vor allem in den Gotteshäusern geschehen, denn diese seien ein Symbol für das, was die Kirche verkünde. „Die evangelische Kirche lebt auch aus der Erneuerung, ohne Um- und Aufbruch gibt es keine wirkliche Erneuerung.“
Im Gegensatz zur Reformationsepoche geht es nun um den Aufbruch einer schrumpfenden Kirche. Weckt das nicht Ängste, muss man sich nicht Sorgen machen um die Konfession? Der „Chef-Theologe“ des Konsistoriums beteuert, ihn plagten keine Ängste. „Wir müssen uns zwar sehr ernsthaft Gedanken machen über die Zukunft, sollten aber nicht gebannt nur auf Zahlen starren. Geistig wachsen und geistig Kirche sein bedeutet nicht, bloß in quantitativen Kategorien zu denken. Wir sollten das Evangelium nach außen tragen und darauf vertrauen, dass daraus ein inneres und irgendwann auch vielleicht ein äußeres Wachstum entsteht. Gleichwohl können wir die Zahlen nicht einfach wegschieben, wir müssen auch rechnen können.“
Bei allem haushälterischen Kalkül, so Stäblein, sollte stets auch ein Aufbruch, eine missionarische Kirche spürbar sein. „Doch Mission funktioniert nicht mit der simplen Methode, als sei der Glaube so etwas wie ein Keks in der Schachtel, die man nur öffnen und verteilen muss. Das Evangelium weitergeben heißt, den Menschen zuhören, sich auf sie einlassen und mit ihnen entdecken, wo in ihrem Leben das Evangelium helfen kann. Deshalb sind auch die Kirchengebäude so wichtig. Wenn jemand ein Gotteshaus öffnet und einem anderen zeigt, was ihn in dieser Kirche berührt, dann kann daraus eine Begegnung mit Gott entstehen. Deshalb sind solche Orte wichtig, deshalb sollten Kirchen niedrigschwellig offen sein.“
Wie und wo erreicht man aber die Menschen vor Ort, wenn sonntags nur noch ein paar Senioren zum Gottesdienst kommen? Wie kommt man an jene Konfessionslosen heran, die nicht mehr wissen, wozu ein Gotteshaus dient und welche religiöse Bedeutung ein Kruzifix hat? „Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sollte nicht erst zum 75. Geburtstag eines Gemeindemitglieds kommen“, sagt der Propst, „sondern schon früher die Familien besuchen. Sie sollten auch zu den Jugendlichen hingehen, die in der Kirche vielleicht mit einem frei zugänglichen Netz surfen.“ Eine Kirche im Aufbruch könne nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht so sehr an ihre organisatorischen Strukturen denkt, sondern die Menschen vor Ort anspricht. Da braucht es Räume, in denen man etwas ausprobiert, Projekte entwickelt.
Wie soll das aber in den jetzt schon dünnbesiedelten und weiter schrumpfenden Regionen Brandenburgs funktionieren, wo ein Pfarrer mehr als zehn Kirchen zu betreuen hat? „Es gibt dafür keinen Meta-Plan“, sagt Stäblein, „kein Patentrezept für alle Gemeinden. Auch da müssen wir vor Ort auf die Menschen hören, und wir sollten mit den Schätzen wuchern, die wir haben. Dazu gehört als erstes der Gottesdienst, oft auch die Andacht, die kleine Form. Es ist doch stets möglich, sonntags eine kleine Andacht in einer Dorfkirche zu machen. Nicht immer und nicht überall. Aber es ist wunderbar, wie viele Ehrenamtliche hier Gottesdienste leiten und feiern. Das ist Kirche, wenn Menschen miteinander Gott loben.“ Der Propst denkt aber beim Gottesdienst nicht nur an Dorfkirchen, sondern auch an andere Orte, wie etwa das Café eines Seniorenstifts oder an eine Friedhofskapelle. „Da bin ich wieder bei den Anfängen der Christenheit, die sich anfangs in Katakomben trafen. Was ich nicht will, ist ein Konzept für alle. Denn das wird nicht funktionieren.“
Der Propst wehrt sich gegen die These, dass Kirchengemeinden mit einem 40-Kilometer-Radius eine pastorale Sackgasse sind. „Pfarrer und Gläubige sind doch heute schon ein wanderndes und fahrendes Gottesvolk.“ Es gebe viele Konzepte, wie man regionale Verknüpfungen herstellen, wie man Kirchen zu anderen Zeiten öffnen und anders nutzen könne. „Der Brandenburger Dorfkirchensommer ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir mit unseren Schätzen auch jenseits der traditionellen Nutzung wuchern können.“ Das sei natürlich leichter möglich in Gotteshäusern, die etwa auf Pilgerpfaden liegen oder Kulturdenkmäler sind, aber es gebe auch anderswo interessante Versuche.
Wie weit darf denn die Öffnung der Kirchen gehen, welche erweiterten Nutzungen sind denkbar über das hinaus, was es bereits an Theater und Musik gibt? „Ich kann in der Kirche nichts machen, was der Botschaft widerspricht. Doch innerhalb dieses Rahmens ist mein Herz weit, da sollte man stets auf den konkreten Fall schauen, da kann eine Gemeinde oft selbst entscheiden.“ Eine rote Linie ist für den Propst indes überschritten, wenn es eine Gemeinde etwa gegen Gebühr erlaubt, in der Kirche eine zivile Trauung abzuhalten. Da werden nach seiner Ansicht zivile und kirchliche Aspekte vermengt, die aus gutem Grund getrennt sind. In theologischer Hinsicht liege der Fall dagegen anders, wenn man die Kirche – auch aus finanziellen Gründen – für Jazz-Veranstaltungen oder andere kulturelle Zwecke nutze. Wie wäre es aber mit einer Sport-Übertragung? Als großer Fußball-Fan mag Stäblein dies nicht völlig ausschließen, wenn es etwa in einem Dorf außer der Kirche keinen anderen öffentlichen Raum gibt. Doch die Kirche dürfe dabei auf keinen Fall zur Kneipe mit Besäufnis werden. Der Raum fordert Respekt und verändert Menschen.
In einer deutschen Landeskirche wurde zeitweise erwogen, auch bei der Beisetzung von Konfessionslosen die Kirchenglocke zu läuten. Wäre dies für Propst Stäblein eine unzulässige Anpassung an den Zeitgeist? „Diese Anpassung ist ein schmaler Grat. Die dritte Ökumene, also das Gespräch mit einer gottvergessenen Kultur, ist zwar sehr wichtig. Man darf dabei auch nicht von vornherein eine Position der Rechtgläubigkeit aufbauen. Ich suche stets das offene Gespräch.“ Gleichwohl gebe es auch hier Grenzen, so etwa bei der Frage, ob generell ein Geläut für Konfessionslose möglich sei. „Ich respektiere jene, die ausgetreten sind, und ich drücke und dränge diesen nichts auf. Die Haltung des Verstorbenen ist zu respektieren.“ Gleichwohl könnten im Einzelfall die Glocken läuten, wenn es Angehörige wünschten, die noch zur Kirche gehören.
Wem gehört denn die Kirche – nicht juristisch, sondern theologisch gesehen? Das ist keine spitzfindig-theoretische Frage, sondern oft eine höchst praktische, wenn etwa in einem Förderverein, der die Sanierung eines Gotteshauses ermöglichte, nur etwa die Hälfte der Mitglieder einer Kirche angehören. „Die Kirche als Gotteshaus gehört eigentlich niemandem, denn geistlich besitzen wir die Kirche nicht, sondern sie dient jenen Menschen, die in einem bestimmten Moment zu Gottes Lob zusammenkommen. Dies gilt auch für jene Beter, die nicht der Kirche angehören.“ Eine Kirche ist dann ein Gotteshaus, so fügt der Propst hinzu, wenn dort auch Gottes Wort verkündet werde, sonst wird sie zum Kulturdenkmal. Und wem „gehört“ die Kirche, wenn es dort ein weltliches Konzert gibt? „Jedes Konzert verändert sich, wenn es in einer Kirche stattfindet, ein weltliches Konzert fügt sich dann in einen bestimmten Kontext ein – es sei denn, die Kirche ist entwidmet.“ Der Propst erinnert an das Wort Christi: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen (Matthäus 18, 20).
Wie sieht die Kirche in zwanzig Jahren aus? Wird sie noch kleiner sein, ist sie noch mehr von der Volks- zur Minderheitenkirche geworden? Der Propst benutzt ein Wort aus der Autoindustrie, vergleicht die Kirche mit einem Hybrid-Fahrzeug, das sowohl mit Benzin, aber auch mit Batterie fahren kann. „Die Kirche wird bis dahin gelernt haben, mit verschiedenen Motoren unterwegs zu sein, aber immer mit einem Geist.“ Wird sie somit, wenn man diesem Auto-Bild folgt, in den strukturschwachen Regionen neben der seelsorgerischen Aufgabe viel stärker zum Kultur-Motor werden? „Die Kirche ist schon jetzt oft ein Kulturträger und wird es immer mehr werden. Sie wird aber kein beliebiger Akteur sein, denn sie steht für einen christlichen Geist.“
Das Gespräch führten Bernd Janowski und Konrad Mrusek.