Heilsgeschichte in neunzig Bildern
550 Jahre Großes Zittauer Fastentuch
Dr. Peter Knüvener ist Direktor der Städtischen Museen Zittau. Er promovierte zur mittelalterlichen Kunst in der Mark Brandenburg.
In Zittau in der Oberlausitz steht in diesem Jahr ein bedeutendes Jubiläum an: 1472 – genau vor 550 Jahren – wurde das Große Zittauer Fastentuch geschaffen. Es gehört zu den besonders seltenen und kostbaren mittelalterlichen Kunstwerken und ist eines der ältesten erhaltenen und mit 8,20 x 6,80 Meter eines der größten Fastentücher überhaupt. Das Tuch wurde vom Zittauer Kaufmann Jakob Gürtler gestiftet. Es zeigt auf neunzig Bildfeldern die Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Apokalypse und ist damit eine der ausführlichsten derartigen Erzählungen in der Monumentalkunst. Der Künstler, der die zeitgenössischen niederländischen Kunstströmungen kannte und bestrebt war, die Welt naturalistisch darzustellen, wählte einen übersichtlichen Erzählmodus, der es erlaubt, die Bilder auch aus größerer Entfernung zu erfassen. So ist die Erzählung in der Regel auf relativ wenige Figuren und Gegenstände begrenzt und sehr übersichtlich aufgebaut.
Der Einsatz von Schatten und von genau beobachteten Details zeugt jedoch von der Versiertheit des unbekannten Malers. Überdies werden die Bilder von gereimten Kommentaren in mittelhochdeutscher Sprache begleitet, was die Anschaulichkeit noch vergrößert. Das Tuch ist ein meisterhaft auf Vermittlung und Didaktik hin angelegtes Kunstwerk. In seiner Wirkung ist es ähnlich den großen Wandmalereizyklen (z. B. in Briesen bei Cottbus), wobei es nur temporär gezeigt wurde und damit lediglich einmal im Jahr den Kirchenraum – in Zittau der Hauptpfarrkirche St. Johannis – veränderte.
Der Brauch und seine Überlieferung
Fastentücher sind sehr fragile Kunstwerke, die nur für eine temporäre Präsentation während der Fastenzeit gedacht waren. Sie sind seit dem hohen Mittelalter belegt und werden in einigen – meist katholischen – Gegenden bis heute verwendet, um in der Fastenzeit Altäre oder den Chorraum zu verhüllen. In der Mark gibt es mit dem Hungertuch aus dem Brandenburger Dom einen der besterhaltenen und auch qualitätsvollsten frühen Vertreter dieser Gattung Die Szenen wurden dort gestickt, nicht gemalt wie in Zittau. Bei seiner Betrachtung muss man berücksichtigen, dass das Tuch heute viel schwerer lesbar ist als ursprünglich, denn die mit braunen Fäden gestickten Konturen sind fast vollständig ausgefallen.
Aufgrund des Materials Textil und der Tatsache, dass Fastentücher einer regelmäßigen mechanischen Beanspruchung unterlagen, blieben nur sehr wenige Tücher aus historischer Zeit erhalten. Diese konzentrieren sich großenteils auf den Alpenraum, besonders auf Kärnten. Die Zittauer Tücher – neben dem großen gibt es noch ein kleines von 1573 – blieben erhalten, weil man sie nach Außerdienststellung im 17. Jahrhundert in die städtische Altertümersammlung – die damals bereits bestand – integrierte.
In den evangelischen mitteldeutschen Gebieten ist der Brauch, diese monumentalen Kunstwerke Jahr für Jahr in den Kirchen aufzuhängen, nicht lange nach der Einführung der Reformation nahezu in Vergessenheit geraten, sicher auch, weil Martin Luther selbst sie als „päpstisches Gaukelwerk“ verunglimpfte.
Die Wiederentdeckung und dauerhafte Ausstellung der Zittauer Fastentücher in den 1990er Jahren hat zu einer Aufklärung beigetragen, auch dazu, dass das Thema Fastentücher überhaupt wieder aufgegriffen wurde. So wurden regional neue Fastentücher geschaffen und in Dienst genommen, so zum Beispiel in der – evangelischen! – Gartenkirche Hannover (2016). Im Wiener Stephansdom werden jährlich im Wechsel zeitgenössische Fastentücher gezeigt. Das Große Zittauer Fastentuch ist überdies für die ganze Region ein identitätsstiftendes Kunstwerk geworden. An der Autobahn nahe Bautzen wirbt ein Schild für „Zittau, Stadt der Fastentücher“.
Das Jubiläum – Erleben des Fastentuchbrauches
Das 550. Jubiläum des Großen Zittauer Fastentuchs soll auf verschiedene Art und Weise begangen werden. Das Fastentuch hat eng verwandte Geschwister und auch eindrucksvolle entfernte Verwandte. Darunter fallen das berühmte Tuch aus dem Dom zu Gurk (in Kärnten/Österreich, 1458), die Tücher in Haimburg (Österreich, 1504), Millstadt (Österreich, 1593), Gröden (Italien, 1630) oder Bendern (Liechtenstein, 1612) in der Alpenregion. Anderer Gestalt – mit zentraler Kreuzigung – sind das berühmte Tuch aus dem Freiburger Münster (1612), das aus Weißstickerei hergestellte Tuch in Telgte (Münsterland, 1623) sowie die erst jüngst publizierten Tücher Südamerikas (spätes 16. Jahrhundert), die gewissermaßen Nachkommen der europäischen Textilien sind. Einige dieser Tücher werden reproduziert – möglichst in natürlicher Größe! – und in der Fastenzeit 2022 (2.3.-17.4.) in Zittauer Kirchen oder Gotteshäusern der Region aufgehängt und als dezentrale Fastentuchausstellung präsentiert. Auch das Brandenburger Tuch sowie weitere frühe Tücher aus Halberstadt oder aus den Lüneburger Heideklöstern werden zu erleben sein, ebenso zeitgenössische Tücher verschiedener Art.
Durch diese eindrucksvolle Inszenierung werden der nahezu vergessene Brauch in seiner ganzen Vielfalt und die Kunstwerke in ihrer Monumentalität wieder erlebbar. Von Bedeutung ist hier, dass die Tücher ihre Wirkung in angemessenen Räumen entfalten können, in den Kirchen, die auf die Tücher abgestimmt sind. In das Projekt sind daher zahlreiche Kirchgemeinden der Region involviert, mit denen gemeinsam auch ein umfassendes Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen, Bildbetrachtungen, Exkursionen, Andachten, Konzerten und einer Fastentuchtagung konzipiert worden ist.
Informationen zu Ausstellungsorten und Begleitprogramm unter: www.museum-zittau.de