von Claudia Rückert

Kirchliches Kunst- und Kulturgut

Das Inventarisationsprojekt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Dr. Claudia Rückert ist Kunstgutreferentin im Kirchlichen Bauamt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Staubwedel aus der Dorfkirche in Klettwitz; Fotos: Claudia Rückert

Kunst-, Bibliotheks- oder Archivinventare stehen in einer langen Tradition. Ursprünglich dienten sie zum Nachweis von Vermögenswerten und wurden nicht selten im Zusammenhang von Erbschaftsangelegenheiten erstellt. Berühmt sind die Kunstinventare des Jean de Berry (1340 – 1416), Herzog von Berry und Bruder des französischen Königs, oder Margaretes von Österreich (1480 – 1530), Statthalterin der Niederlande, Tochter Kaiser Maximilians I. und Tante Kaiser Karls V. Beide Regenten gehörten zu den großen Kunstmäzenen ihrer Zeit. Ihre Inventare geben nicht nur Auskunft über die Wertigkeit einzelner Objekte, sondern auch über Herkunft und Beschaffenheit. Für die Rekonstruktion damaliger Sammlungstätigkeit sind sie von herausragender Bedeutung. Auch für den sakralen Bereich sind frühneuzeitliche Inventare oder entsprechende Beschreibungen in Chroniken überliefert. Für die Kunst-, Kirchen- und Ortsgeschichte sind insbesondere die für die Klosteranlagen im Zuge der Säkularisation angefertigten Bestandsverzeichnisse überaus kostbare Zeugnisse.

Eine datenbankgestützte Gesamterfassung des Kunst- und Kulturguts in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) wurde auf der Frühjahrssynode 2008 angeregt. Bereits zuvor hatte es vielfältige Anstrengungen gegeben, das reiche Erbe in den Kirchengemeinden zu dokumentieren – sowohl auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als auch im ehemaligen West-Berlin. Allerdings waren die Erfassungen weder flächendeckend noch nach einheitlichen Kriterien erfolgt. Auch lag der Fokus hauptsächlich auf den liturgisch bedeutsamen Objekten und weniger auf der gesamten Kirchenausstattung. Die neuerliche Initiative der Landessynode hing auch mit der Erkenntnis zusammen, dass die in ihrer Obhut befindlichen Kunst- und Kulturgüter dauerhaft nur dann zu schützen und für zukünftige Generationen zu bewahren sind, wenn man überhaupt um ihre Existenz weiß.

Kupferkessel aus der St.-Nikolai-Kirche in Bad Wilsnack

Das Inventarisationsprojekt stellt auf landeskirchlicher Ebene ein Arbeitsgebiet des Kirchlichen Bauamtes dar. Neben einem grundsätzlichen Überblick über das bewegliche und unbewegliche Kunst- und Kulturgut werden mit den Inventaren auch praktische Ziele verfolgt, so die Unterstützung bei Pfarramtsübergaben oder die Klärung von dringenden Konservierungs- oder Restaurierungsmaßnahmen. Die Erfassungen werden vorrangig von freiberuflichen Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern unternommen und gemeinsam von den Kirchengemeinden, den Kirchenkreisen und der Landeskirche finanziert. Neben den beweglichen Objekten, etwa den Abendmahlsgeräten, Paramenten oder Epitaphien, werden fest verankerte und mit dem Bauwerk verbundene Objektgruppen erfasst: Altäre, Kanzeln, Taufen, Wand- und Glasmalereien, Glocken und Orgeln sowie ausgewählte Bauplastik, aber auch Gestühle, Emporen und Türen. Gerade die zuletzt genannten Stücke sind im Falle von Umbauten häufig bedroht. Denn ihr kulturhistorischer, gemeindegeschichtlicher und/oder raumprägender Wert ist nicht immer offensichtlich. Die heute noch im Gebrauch befindlichen Gegenstände sind Zeugnisse von liturgischer Praxis und aktivem Gemeindeleben. Sie wurden häufig über Generationen bewahrt. Durch die Erfassung erschließt sich ihr besonderer historischer Wert oftmals wieder neu.

Zu Beginn des Inventarisationsprojekts lag der Schwerpunkt auf der konzeptionellen Arbeit, vor allem dem Aufbau einer zentralen Bilddatenbank. Kernpunkte waren die Organisation der Datenbankstruktur und der Eingabemasken nach kirchlich-institutionellen und fachlichen Maßgaben. Nach einem längeren Findungsprozess ist die Kunstgutdatenbank nun seit 2013 in Betrieb.

Inventarisierungskampagnen fördern immer Überraschendes zu Tage. Sei es, dass Verlorengeglaubtes wiedergefunden wird, die kirchen- und/oder kunstgeschichtliche Bedeutung der Objekte erst im Zusammenhang deutlich wird oder sich das Kunst- und Kulturgut als interessanter Geschichtenerzähler erweist. 

Mosaikfragment aus der zerstörten Berliner Gnadenkirche

Neben dem vorhersehbaren Bestand finden sich auch ungewöhnliche Objekte. In der Nikolaikirche in Bad Wilsnack (Prignitz), der sogenannten Wunderblutkirche, einem der bedeutendsten Pilgerziele vom Ende des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, hat ein verbeulter Kupferkessel überdauert. Der Legende nach sollen darin 1552 die Wilsnacker Wunderhostien verbrannt worden sein. Sinnbildlich steht dieser Kessel für das Ende des Pilgerortes und den Beginn der protestantischen Zeitrechnung.

Ein Staubwedel an einer vier Meter langen Stange gehört zur Originalausstattung der Dorfkirche in Klettwitz (Oberspreewald-Lausitz), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im neoromanischen Stil erweitert und aufwendig ausgestattet wurde. Reinigungsutensilien gehörten auch zum Inventar, und die Anschaffung einer Leiter ist beispielsweise im Zusammenhang mit dem Cranach-Altar in Neustadt an der Orla nachzuweisen.

Die Berliner Gnadenkirche im Invalidenpark, die zu den ersten drei Kirchen des Bauprogramms des Evangelischen Kirchenbauvereins gehörte, wurde mit einem sogenannten Gnadengeschenk des Kaiserhauses unterstützt und im Beisein von Wilhelm II. und seiner Gattin Auguste Viktoria 1895 geweiht. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört und 1967 gesprengt. Einen kleinen Eindruck von der einst exquisiten Ausstattung vermittelt ein Mosaikfragment, das sich heute im Archiv der Kirchengemeinde am Weinberg (Berlin-Stadtmitte) befindet. Der Kopf eines Römers zeigt nicht nur die Virtuosität der Mosaizisten, sondern erinnert auch an die Firma Puhl & Wagner in Berlin, die als Hersteller von Glasmosaiken und Glasmalereien und als Hoflieferant Kaiser Wilhelms II. zahlreiche Staatsaufträge übernahm. 

Epitaphgem lde von Michael Ribestein „Der ungerechte Haushalter“ aus der Frankfurt St.-Marien-Kirche, Heute in St. Gertraud; Foto: Holger Kupfer

In mehreren Fällen wurden akute Bedrohungen von Objekten erkannt und diese in gemeinsamer Anstrengung von Kirchengemeinde und weiteren Partnern restauriert. Dies geschah unter anderem bei den Gedächtnismalen des Totenkronenbrauchs in der Dorfkirche Derwitz (Ev. Kirchenkreis Mittelmark-Brandenburg). Über Jahrzehnte lagerten die Kästen auf dem Dachboden und konnten nun durch das Engagement der Kirchengemeinde und der Denkmalpflege restauriert werden. (Siehe auch den Beitrag von Eva Gonda in diesem Heft.)

Ein umfangreiches Erfassungs-, Restaurierungs- und Erschließungsprojekt beschäftigte sich mit den bedeutenden Kunstgütern der im Zweiten Weltkrieg zerstörten, seit den 1980er Jahren wieder aufgebauten und heute als Kulturzentrum genutzten Frankfurter Marienkirche. Der Großteil der ehemaligen Ausstattung der Marienkirche befindet sich nun in der Frankfurter St.-Gertraud-Kirche. Zum Zeitpunkt der Erfassung waren die Kunstwerke in einem schlechten konservatorischen Zustand. Das Projekt kam wesentlich auf Betreiben der Kirchengemeinde zustande und mündete 2017, im Jahr des Reformationsjubiläums, in der vielbeachteten Ausstellung Bürger – Pfarrer – Professoren. St. Marien in Frankfurt (Oder) und die Reformation in Brandenburg. Ohne die vorangegangene Erfassung und damit die historische Einordung des Kunstguts hätte das umfangreiche Restaurierungs- und Ausstellungsprojekt nicht auf den Weg gebracht und realisiert werden können. Ein Verdienst der Präsentation war auch, Michael Ribestein, den für die Frankfurter Bürgerschaft und am Hofe von Kurfürst Joachim II. tätigen Maler, einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Das früheste seinem Oeuvre zugeschriebene Werk ist das Epitaphgemälde „Der ungerechte Haushalter“, gesetzt für den Bürgermeister Hieronymus Jobst und seine Frau Otilia Wernitz durch ihren Sohn Gregorius im Jahr 1544.

Kasten mit Schlummerkissen in der Dorfkirche in Derwitz; Foto: Sylvia Müller-Pfeifruck

Auch das Erfassungsprojekt der Bernauer Marienkirche (Barnim) stand am Anfang von umfangreichen Aktivitäten, die nicht nur einen Tagungsband hervorbrachten, sondern auch dazu führten, dass das monumentale Hochaltarretabel aus der Wittenberger Cranach-Werkstatt restauriert werden konnte. Eines der Ergebnisse war außerdem, dass die an der Kanzel zweitverwendeten spätmittelalterlichen Figuren zusammengehören und wohl einst zum Aufstecken auf Prozessionsstangen gedient haben, ähnlich einem Paar Stangen mit Maria und Christus Salvator im Bayerischen Nationalmuseum in München. Prozessionsstangen wurden in der Regel paarweise in Auftrag gegeben und dienten bei feierlichen Anlässen der Rahmung von Prozessionsbildern oder Leichenbegängnissen. Dass diese in ›katholischer‹ Zeit gelebte und mit der Einführung der Reformation eingestellte Praxis in der Mark Brandenburg nicht automatisch zur Zerstörung solcher Bildwerke führte, ist somit beredtes Zeugnis von der behutsamen Überführung spätmittelalterlicher Frömmigkeit in die lutherische Glaubenspraxis, die sich unter Kurfürst Joachim II. ohne tiefgreifende Bilderstürmerei vollzogen hat.

Maria und Christus Salvator an der Kanzel in St. Marien Bernau; Foto: Claudia Rückert

Mit dem Erfassungsprojekt hat sich in den vergangenen Jahren eine wichtige Schnittstelle zwischen der Landeskirche, den Kirchengemeinden und den außerkirchlichen Institutionen, die mit der Bewahrung kirchlicher Kunstgüter betraut sind, etabliert. Erst die Kooperationen, etwa mit den Denkmalbehörden, ermöglichen es, größere Erschließungsprojekte für das kirchliche Kunst- und Kulturgut aufzubauen.

In der EKBO steht das Inventarisationsprojekt trotz der bisherigen Erfolge – etwa 15 Prozent der Kirchengebäude wurden erfasst – nicht zuletzt wegen der finanziellen Bedenken der Gemeinden und Kirchenkreise weiterhin vor großen Herausforderungen. Gelingen wird die Gesamtinventarisierung jedoch nur, wenn sich alle Akteure über die Notwendigkeit und den Nutzen des Projekts einig sind. Kirchliche Kunst- und Kulturgüter besitzen – jenseits ihrer gottesdienstlichen Aufgabe – nicht nur theologisch-didaktische, sondern vor allem auch identitätsstiftende Potentiale. In der Erfassung und Erschließung der Objekte liegt die große Chance, die einst von der Gemeinschaft gestifteten Zeugnisse wieder über die Kirche hinaus sichtbar zu machen. Es ist abzusehen, dass die Bewahrung des kirchlichen Kunst- und Kulturguts zukünftig nur durch gemeinsame finanzielle Anstrengungen von Kirche, Staat und Bürgerschaft zu leisten ist. Eine Übersicht über das Vorhandene ist dafür notwendigerweise der erste Schritt.

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