von Susanne Gloger

Das Schiff muss warten

Die Wiederbelebung des Kirchturms in Brüsenhagen

Susanne Gloger ist Kunsthistorikerin.

Foto: Förderverein Kirche in Brüsenhagen e.V.
Dorfkirche Brüsenhagen, Postkarte mit historischer Kirchenansicht

Leicht ist Brüsenhagen (Landkreis Prignitz) nicht zu finden. Abseits der Chaussee zwischen Pritzwalk und Kyritz liegt das kleine Dorf romantisch versteckt hinter Holunderbüschen. Am Ende der frisch gepflasterten Straße erhebt sich wie in fast jedem Prignitzdorf als höchstes Gebäude die Kirche auf einer kleinen eingefriedeten Anhöhe. Schmuck sieht das restaurierte Fachwerk mit seinen unterschiedlich gemusterten Feldern aus, ordentlich verbrettert sind Giebel und Turm. Aber Überraschung beim Näherkommen: Da steht ja nur ein Turm. Ganz genau betrachtet, steht da nur eine schmale Scheibe des westlichen Kirchenschiffs, über dem sich der Turm erhebt.

Brüsenhagen wurde 1333 das erste Mal schriftlich erwähnt. Ursprünglich gehörte es zur Herrschaft der Markgrafen von Brandenburg und wurde im 15. Jahrhundert je zur Hälfte an die Familien von Blumenthal in Vehlow und von Klitzing in Demerthin verpfändet. Die Kirche am Ende des Dorfes war ursprünglich Mutter-, ist jedoch seit der Reformation Tochterkirche des Nachbardorfs Vehlow. 1678 wurde die Fachwerkkirche mit polygonalem Ostschluss und gemusterter putzfreier Ausmauerung errichtet.

Foto: Förderverein Kirche in Brüsenhagen e.V.
Dorfkirche Brüsenhagen nach Zerstörung
des Kirchenschiffes 1974

Auf einer alten Postkarte ist die Brüsenhagener Kirche mit ihren barocken Fenstern unversehrt zu erkennen, die Aufnahme zeigt die Ausmaße des nun fehlenden Kirchenschiffs. Anfang der 1970er Jahre wurde es wegen Baufälligkeit abgetragen, auf den dringenden Wunsch der Gemeinde hin jedoch der schmale Streifen, der den Turmaufsatz trägt, beibehalten und mit einer Wand geschlossen. Durch eine schlichte Tür gelangte man in den winzigen Raum, der durch eine Art Wohnzimmerfenster beleuchtet wurde. Zur gleichen Zeit war der kostbare mittelalterliche Schnitzaltar als Dauerleihgabe in die Kyritzer Marienkirche gegeben worden, wo er seitdem in der Brautkapelle zu bewundern ist.

Die Ausstattung der kleinen Dorfkirche, die 1678, also geraume Zeit nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, errichtet wurde, ist beeindruckend. Neben dem in Kyritz befindlichen vielteiligen Achatiusaltar aus dem 15. Jahrhundert gibt es zwei hölzerne Schnitzfiguren der Anna Selbdritt aus dem Mittelalter. Die Gesamtwirkung der umfangreichen bauzeitlichen Barockausstattung, von der sich Bildtafeln von Kanzel, Emporenbrüstung und Gestühl erhalten haben, lässt sich in der mittelalterlichen Feldsteinkirche in Vehlow nachvollziehen, die zur gleichen Zeit vom Patron beider Kirchen, Hans Jacob von Blumenthal, umfassend gemäß dem Zeitgeschmack umgestaltet worden war. Gleichwohl wurden in beiden Kirchen die altehrwürdigen vorreformatorischen Altäre und in Brüsenhagen auch die beiden Figuren der Anna Selbdritt übernommen. Bemerkenswert ist hier der für diese Gegend unübliche dem Heiligen Achatius geweihte Altar.

Der Heilige gilt als einer der 14 Nothelfer, deren Verehrung im Spätmittelalter vor allem in Süddeutschland verbreitet ist. Sein Martyrium – der römische Feldherr wurde mit 10.000 Soldaten, die mit ihm den Glauben an Christus angenommen hatten, von Dornen zerfleischt und gekreuzigt – sollte besonders Kreuzfahrern auf ihrem beschwerlichen Weg Mut machen und sie beim Aushalten der Strapazen unterstützen. Achaz als ein nicht unüblicher Name für Prignitzer Adelsgeschlechter hebt wohl auf die Ritterlichkeit des Namenspatrons ab und betont so den Adelsstand des Trägers.

Foto: Förderverein Kirche in Brüsenhagen e.V.
Sanierter Kirchturm in Brüsenhagen 2017

Der vielfigurige Schnitzaltar ist aus mehreren Teilen zusammengesetzt: Das Hauptfeld besteht aus den Seitenflügeln eines Schnitzaltars vom Ende des 15. Jahrhunderts, der in zwölf Reliefs Szenen aus der Achatiuslegende schildert; die Madonna im zweiten Feld stammt jedoch aus einem anderen, aber ebenfalls mittelalterlichen Zusammenhang. Die stark beschädigte Predella, die das letzte Abendmahl und der Aufsatz, der die Auferstehung Christi darstellt, zeigt die Jahreszahl 1683, so dass das Zusammenfügen der einzelnen Teile des Altars in den Zusammenhang des Kirchenbaus zu stellen ist. Sollten sowohl der Schnitzaltar, die Madonna und auch die beiden Annenskulpturen, die Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen wurden, ursprünglich aus dem spätmittelalterlichen Besitz der Dorfkirche Brüsenhagen stammen, stellte sich die Frage, ob diese großzügige Ausstattung dem Patronat der Familie von Blumenthal oder aber der Bedeutung des Orts zu verdanken war. War Brüsenhagen möglicherweise ein Gnadenort in der Prignitzer Wallfahrtslandschaft zwischen dem Wunderblut in Wilsnack und Alt Krüssow, wo die Heilige Anna verehrt wurde?

2009 führte eine der vom Förderverein zum Erhalt der Bölzker Kirche e. V. veranstalteten Radtouren nach Brüsenhagen. Schon bei der Vorbereitung ergaben sich Synergieeffekte, die für Bölzke die unvorhergesehene Chance boten, mit der Leihgabe einer mittelalterlichen Annenfigur die Pilgerausstellung in Bölzke zu schmücken und für Brüsenhagen jede Menge an Informationen, Kontakten und Unterstützung bei der Planung ihres Vorhabens.

Die kleine Brüsenhagener Gemeinde, die regelmäßig mit Pfarrer Hans-Georg Scharnbeck in dem winzigen Kirchenraum Gottesdienst feierte, wurde aktiv. Mit dem jungen Verleger Rouven Obst und seiner Frau Julia, die gerade in einen Dreiseithof des Dorfs gezogen waren und ihn zu renovieren und bewirtschaften begannen, wehte frischer Wind durch die Kirche, die Gemeinde und den Ort. Der Förderverein Kirche in Brüsenhagen wurde im Juni 2010 gegründet, Postkarten mit der alten Ansicht der Kirche gedruckt, ein Jahr später erhielt der Verein das Startkapital des Förderkreises Alte Kirchen.

Foto: Förderverein Kirche in Brüsenhagen e.V.
Vor dem Krippenspiel, 24. Dezember 2019

Nun wurde gefeiert, gesammelt, gesungen, gelesen. Der Verein träumte von einem Aufbau des Kirchenschiffs in der alten Kubatur als großzügigen Gottesdienstraum, von der Möglichkeit, die Kunstschätze an ihren angestammten Platz zurückzubringen, als Begegnungsstätte, als überregionales religionspädagogisches Zentrum – vieles schien vorstellbar. Allein die marode Bausubstanz des Kirchturms erforderte schnelles Handeln, eine Notdeckung versuchte Schlimmeres zu verhindern, schließlich zwang das Schadensgutachten zu Planungsschritten, die auch ein junger, kleiner Verein bewältigen kann. Das Schiff muss warten. Das Konzept sah jedoch vor, dass der Kirchturm im Zuge der weiteren Innensanierung nicht nur als Gotteshaus fungieren, sondern allen BürgerInnen (ob jung oder alt) als Ort der Begegnung und Verständigung offenstehen wird. Gleichzeitig sollte er als kultureller Veranstaltungsraum über den Ort hinaus die Region bereichern und Kulturinteressierte sowie Touristen ansprechen. So findet die alljährliche Preisverleihung des Literaturpreises Nordost im Kirchturm statt.

Keine geringe Herausforderung, das alles auf 24 m² unterzubringen. Das Ergebnis lässt sich jedoch sehen, mit kluger Sorgfalt für Baumaterialien und großem Gespür für die Verbindung zwischen Altem und Neuem ist die Sanierung des Turms derart geglückt, dass eine Anerkennung des Landes Brandenburgs im Rahmen des Baukulturwettbewerbs 2019 für das „beispielgebende Engagement für ein nachhaltiges und zukunftsfähiges Brandenburg“ erfolgte.

Foto: Clemensfranz/Wikipedia
Achatiusaltar aus Brüsenhagen in der Stadtkirche Kyritz

Die Sanierung des Kirchturms in Brüsenhagen ist in jeder Hinsicht zukunftsfähig, die Ostwand aus Lehm öffnet sich mit drei modernen Türen, vielleicht auch einmal zum Kirchenschiff, dessen Umriss bereits in Fundamentsteinen sichtbar ist. Feiern, Märkte und Lesungen im Turm sind ebenso beliebt wie die Schreibaufenthalte junger Autoren auf dem Hof der Familie Obst in großzügigen Ferienwohnungen. Dass Brüsenhagen vertrauensvoll in die Zukunft schaut, beweisen auch die drei Kinder der Familie Obst, die im Schatten des restaurierten Kirchturms heranwachsen.

Zur Kirche
Vorheriger Beitrag
„…erhebe deine Stim, wie eine Posaune…“

Die Dorfkirche von Groß Glienicke

von Andreas Kalesse

Nächster Beitrag
Das unsichtbare Schmuckkästchen

Rubens reuige Magdalena bei Baroccis Grablegung Jesu in Lenzen

von Rudolf Bönisch