von Bernd Janowski

„Aber wen, um Himmels willen, interessiert denn das?“

Fontane und der zwanzigste Jahrestag der DDR

Bernd Janowski ist Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.

Die Zahl der in diesem Jahr anlässlich seines 200. Geburtstages erschienenen und vermutlich noch erscheinenden Publikationen zu Theodor Fontane ist immens. Jede Facette seines Lebens und seines Werkes scheinen einer Publikation wert zu sein. Die Frage „Aber wen, um Himmels willen, interessiert denn das?“ stellte sich ein recht bekannter Schriftsteller – im Zusammenhang mit einem früheren Fontane-Jubiläum – bereits vor genau fünfzig Jahren.

Im Vorfeld des doppelt wichtigen Gedenkjahres 1969 – 150 Jahre Fontane, 20 Jahre DDR – lädt Günter Caspar, Cheflektor des Ostberliner Aufbau-Verlages, zwei Autoren ein, sich auf die Spuren des märkischen Wanderers zu begeben und über die sozialistischen Errungenschaften in den durch Theodor Fontane beschriebenen Gegenden zu berichten. Einer der Schriftsteller ist Joachim Seyppel. Im damals noch eigenständigen Groß-Lichterfelde bei Berlin 1919 geboren, zwischen 1950 und 1961 als Literaturdozent an verschiedenen Hochschulen in den USA wirkend, lebt er (mit amerikanischer Staatsbürgerschaft) in West-Berlin. Als zweiter Autor ist Franz Fühmann vorgesehen. Fühmann wurde 1922 im böhmischen Rochlitz geboren, litt nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft unter seiner jugendlichen Begeisterung für den Nationalsozialismus und hatte sich als anfänglicher Befürworter des Bitterfelder Weges schriftstellerisch in der DDR einen guten Namen gemacht. Aufkommende Zweifel an der neuen, besseren Zeit bekämpft er inzwischen mit eiserner Selbstdisziplin und Alkohol.

Unabhängig voneinander machen sich beide auf die Reise: Joachim Seyppel, der sich im Rückblick auf seine amerikanischen Jahre selbstironisch als „Yankee in der Mark“ sieht, erhält zusammen mit seiner amerikanischen Ehefrau Jeanette Lander und zwei Kindern ein langfristiges Einreisevisum. Franz Fühmann reist „bequem im Auto, mit drei Koffern, einen Anzug am Bügel“. Für beide stellt sich recht bald die Frage nach dem Begriff „Heimat“. Seyppel: „Jede Wanderung eine Auseinandersetzung mit dem vertrackten Begriff Heimat, einem abgestandenen, schalen verdächtigen Wort? Diese Heimat ist nicht mehr.“ Fühmann: „Stolpere ich also durch ein Land, das ich vom Schreibtisch aus … für meine Heimat zu halten geneigt war und das meine Heimat nicht ist und nie sein wird: Sand, Kiefern, Weiden vor Buchen und im Wald ist die Luft grün und der See macht plitscheplatsche.“ – Begeisterung klingt anders.

Im lockeren Plauderton – zeitlich hin und her wechselnd zwischen Wiedererkennen der aus der Jugend vertrauten märkischen Landschaft und exotischem Wahrnehmen der realsozialistischen Gegenwart – schreibt Joachim Seyppel eine durchaus lesenswerte Reportage. „Begleitet von nicht gerade Sehnsucht, doch immerhin ein wenig Neid … immerhin von Bewunderung“ stellt er sich selbst am Ende seines Buches die Klassenfrage: „Hast du, mon ami, dein Leben richtig gelebt?“

Franz Fühmann macht sich die Aufgabe wesentlich schwerer. Er spricht mit Genossenschaftsbauern, Betriebsdirektoren und Funktionären, wohnt einige Tage in einem Lehrlingsheim der Forstwirtschaft, liest sich durch Bilanzen sozialistischer Betriebe und macht Exzerpte aus heimatkundlichen Schriften. Nach einem Besuch des Alten Friedhofs in Neuruppin schreibt er in sein Tagebuch: „Totalverfall, ohne die Spur eines Versuchs, etwas zu erhalten. Aufs Grab der Mutter Fontanes pinkeln die Hunde; das Grab der Gentze ebenso vor völligem Verfall wie das des Bildhauers Wiese, des Bilderbogenkühn. Es ist eine Schande!“ Notizen, die sich Fühmann auf seinen Spaziergängen macht, kommentiert er selbst mehrfach lakonisch mit dem knappen Nachsatz: „Darf ich nicht schreiben.“ Im Anschluss an einen abendlichen Gang durch Neuruppin notiert er vor dem Zubettgehen: „Was will ich eigentlich. Ich weiß es nicht. Na lassen wirs.“ Über Monate hinweg zwingt er sich, ständig von Zweifeln geplagt, weiter zu machen. „Aber wen, um Himmels willen interessiert denn das?“ Als er schließlich resigniert dem Aufbau-Verlag absagt, umfassen seine Aufzeichnungen 1.900 Blatt und 30 Notizhefte. Erst 2005, postum, erscheinen Fühmanns Arbeitsmaterialien erstmalig in Buchform. Eine Lektüre des Scheiterns – trotzdem, oder gerade deshalb(?) auch zum heutigen Lesen empfohlen!

Nachtrag: Der Schriftsteller Franz Fühmann bleibt der DDR treu, resigniert jedoch mehr und mehr; er übersetzt ungarische Lyriker, schreibt wunderschöne Märchen und Nachdichtungen antiker Stoffe für Kinder. Der Yankee Joachim Seyppel wechselt 1973 seinen Wohnsitz von West- nach Ost-Berlin und nimmt die Staatsbürgerschaft der DDR an. Beide treffen sich im September desselben Jahres zufällig in der Karl-Marx-Allee. Seyppel berichtet von seinem Umzug. Antwort Fühmann: „Ja, ich habe es im Spiegel gelesen.“

In seiner neuen Heimat wird auch Joachim Seyppel nicht für lange Zeit glücklich: 1979 wird er aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und erhält ein Dreijahres-Visum für die Bundesrepublik; 1982 folgt die Ausbürgerung.

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