Buchtipp

Die Marienkirche auf dem Harlungerberg in Brandenburg an der Havel

Es spiegeln sich in deinem Strome Wahrzeichen, Burgen, Schlösser, Dome, … … Der Harlunger Berg, der an oberster Stelle Weitschauend trug unsre erste Kapelle. (Theodor Fontane: Havelland)

Zur Begründung für den Wiederaufbau (oder sollte man sagen: Neubau) verschwundener historischer Bauten, wie zum Beispiel der Dresdener Frauenkirche oder der Potsdamer Garnisonkirche wird oft als Begründung angeführt, dass diese dereinst das Stadtbild wesentlich geprägt haben. So wundert es denn, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, die Marienkirche auf dem Harlungerberg (heute zumeist als Marienberg bezeichnet) der Stadt

Brandenburg an der Havel wieder zu errichten. Es gab wohl keinen vergleichbaren Bau, der derart markant die Stadtkrone einer märkischen Siedlung bildete – und das über ein halbes Jahrtausend lang.

Errichtet wurde der imposante Zentralbau auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes und versehen mit vier quadratischen Ecktürmen ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts; erstes schriftliches Zeugnis ist ein Ablassbrief aus dem Jahr 1222. Bereits seit dem 12. Jahrhundert befand sich an dieser Stelle ein Vorgängerbau, der am Ort eines heidnischen Triglaw-Heiligtums errichtet wurde und so wohl den endgültigen Sieg des Christentums in der Region repräsentieren sollte. Im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. wurde das Gotteshaus 1722 bis 1723 abgetragen, um Baumaterial unter anderem für das Potsdamer Militärwaisenhaus zu gewinnen. Seit der Reformation hatte die Marienkirche, die dem Domkapitel unterstand, ihre Funktion verloren und stand ungenutzt. Doch welches war einst diese Funktion?

Erstmals widmet sich das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege in einer soeben erschienenen Publikation einem Bauwerk, das nicht mehr existiert. Die Brandenburger Marienkirche war jedoch ein derart singulärer Bau in der märkischen Kunstgeschichte (und darüber hinaus!), so dass die Veröffentlichung mehr als gerechtfertigt ist.

Vera Henze-Mengelkamp trägt alle verfügbaren Quellen zusammen, wertet sie neu und stellt Parallelen zu anderen Bauwerken in Bezug auf Baugeschichte und –gestaltung, Ausstattung und Nutzung. Überliefert sind zwei Architekturmodelle, eine „genaue Ausmessung und Verzeichnung“, die vor dem Abbruch durch Christoph Heinss, den Direktor der Ritterakademie in Brandenburg, gefertigt wurde, sowie zahlreiche Skizzen, Zeichnungen und Gemälde, die sich nicht selten in Bezug auf die Gebäudebeschreibung auch widersprechen. Zudem wertet die Autorin vorbildlich sämtliche kleineren und größeren schriftlichen Quellen aus. Dadurch kommt sie zu einer spannenden Beschreibung des Baukörpers, auch wenn naturgemäß weiterhin Fragen offen bleiben müssen.

Einen großen Raum der als Masterarbeit an der Freien Universität Berlin entstandenen Publikation nimmt die Frage nach der Baumotivation und der Nutzung der Marienkirche ein. Historiker hauptsächlich des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts waren sich weitgehend einig darin, dass die Marienkirche bereits als „Wallfahrtskirche“ konzipiert und gebaut wurde. Diese These wird von der Autorin kritisch hinterfragt. Nach inzwischen fast einhelliger Meinung der Spezialisten gab es östlich des Rheins vor dem 14. Jahrhundert keine Wallfahrtskirchen – „vielleicht einmal abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wie der Marburger Elisabethkirche“ (Hartmut Kühne).

Vera Henze-Mengelkamp schlägt die Einordnung des Sakralbaus als „Teil einer Kathedralstadt“ vor und sieht die Marienkirche – als Bestandteil der Sakraltopograhie der drei damals eigenständigen Städte Brandenburg und als rechtlich dem Dom unterstehend – hauptsächlich als Stations- und Festtagskirche, was auch urkundlich belegt ist. Auf den wallfahrtsmäßigen Besuch der Marienkirche weisen denn auch nur sehr spärliche Quellen hin. Erst nach der Errichtung eines eigenständigen Prämonstratenserstiftes 1435 und der Gründung des Schwanenordens 1440 durch die Hohenzollern tauchen vermehrt Belege für den Besuch der Marienkirche auf.

So zitiert die Autorin eine Urkunde aus dem Jahr 1448, in der es heißt „Tyken mogen wy vorkopen“ (Zeichen [Pilgerzeichen] mögen wir verkaufen). Bisher konnte jedoch nirgends ein solches „Tyken“ identifiziert werden. Das Rèsumè des empfehlenswerten Buches endet denn auch mit dem Satz „Wenn auch viele Fragen offen bleiben müssen und zur Diskussion gestellt werden sollen, ist davon abzusehen, die Marienkirche weiterhin als früheste Wallfahrtskirche der Mark Brandenburg zu bezeichnen.

In einem kürzlich in seinem Blog „Pilgerspuren“ erschienenen Beitrag stellt der renommierte Pilgerforscher Hartmut Kühne nun jedoch ein Pilgerzeichen vor, dass bereits 2012 archäologisch in Hamburg-Harburg geborgen wurde und das erst jetzt als zur Brandenburger Marienkirche zugehörig identifiziert werden konnte. In einer umlaufenden Schrift ist die Inschrift zu entziffern: „MARIE BRANDE(n)BORG(ENSIS)“. Der Schrift nach zu urteilen, so Kühne, muss das Objekt in der Mitte des 14. Jahrhunderts hergestellt worden sein – in einer Zeit also, als die Herstellung von Pilgerzeichen noch keineswegs so weit verbreitet war, wie es im 15. Jahrhundert der Fall war. Es bleibt spannend!

Vera Henze-Mengelkamp: Die Marienkirche auf dem Harlungerberg in Brandenburg an der Havel. Zur Baumotivation, Gestaltung und Nutzung eines zerstörten Hauptwerks brandenburgischer Architektur. Herausgeber: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum. Sandstein Verlag, Dresden 2020. ISBN 978-3-95498-590-6; EUR 18, –