Ein Ausflug in die Altmark

Dr. Matthias Friske studierte mittelalterliche Geschichte und Theologie und ist Pfarrer in St. Katharinen zu Salzwedel (Altmark).

Mittelalterliche Kirchen in der Region Gardelegen

Kirche von Algenstedt

Nachdem an dieser Stelle bereits besonders interessante Kirchen im Altkreis Salzwedel vorgestellt worden sind, soll nun der Blick auf die südlich daran anschließende altmärkische Region um Gardelegen herum gerichtet werden.

Die ehemalige Hansestadt Gardelegen zeichnet sich dabei durch einen außergewöhnlichen Reichtum an erhaltener mittelalterlicher Kirchenausstattung aus. Obwohl es „nur“ zwei Pfarrkirchen und eine erhaltene Spitalkapelle (von ehemals wohl vier kleinen Kapellen) gibt – also kein Kloster existierte – lassen sich noch heute zehn Altarretabel mehr oder weniger vollständig bzw. wenigstens in Resten nachweisen. Allerdings hat der überwiegende Teil dieser Werke umfangreiche Wege und Umwege zurückgelegt und ist gegenwärtig bis nach Magdeburg und in benachbarte Dörfer verstreut. Ausgangspunkt dieser Odyssee(n) war die Auflösung der Spitäler nach der Reformation, aber einen richtigen Schub bekam die Wanderungsbewegung erst durch die Kriegszerstörung der Nikolaikirche im Norden der Stadt im Jahr 1945. Damals begann eine Wanderung, die viele Ausstattungsstücke in die Marienkirche führte, während dortige Gegenstände nach auswärts gelangten. In jüngster Zeit konnten zwar einige Objekte zurückgeführt werden, aber eben längst nicht alles.

So befindet sich gegenwärtig ein Altarretabel im Depot des Kunstmuseums Magdeburg in der Liebfrauenkirche, das historisch von besonderem Interesse ist. Es zeigt nämlich seinen Stifter, der als Johann(es) bzw. Hans Fal(c)ke identifiziert werden kann. Falcke stammte aus einer angesehenen Gardelegener Familie und erlangte etliche Pfründe in der Stadt Stendal. Offenbar beim Fortgang nach Stendal stiftete er für das Gardelegener Heilig-Geist-Spital am 9. Oktober 1508 einen Altar. Das erhaltene Retabel stammt eindeutig von diesem Altar. So zeigt es (neben einer mittigen Anna Selbdritt) die in der Stiftungsurkunde genannten Titelheiligen Simon Thaddäus und Judas Zelotes. Deren Festtag, der 28. Oktober, wird 1508 zweifellos auch der Tag der Altarweihe gewesen sein.

Von besonderer historischer Bedeutung sind auch etliche Vasa Sacra in der Region um Gardelegen.

So gibt es eine ganze Gruppe von Kelchen, die einem namentlich bekannten Goldschmied namens Hinrik Horn zugeordnet werden können, der um 1400 herum lebte. Seine Werke zeichnen sich durch eine markante Gestaltung aus, zu der vor allem jeweils ein architektonisch gestalteter Nodus (Mittelteil des Schaftes) gehört. In einem besonders großen Kelch der Marienkirche stehen dort in Maßwerkgiebeln zehn kleine Figuren. Dabei handelt es sich um Jungfrauen – offenbar die klugen Jungfrauen aus dem biblischen Gleichnis – die sich abwechseln mit fünf Engeln, die die Leidenswerkzeuge Jesu in ihren Händen tragen. Noch wichtiger ist an diesem Kelch jedoch eine unter dem Fuß eingravierte Inschrift: „+ orate pro hinriko horne avrifabro“ – also zu deutsch „Bete für den Goldschmied Hinrik Horn“. Letztlich ist es dieser Kelch (und ein zweiter signierter), der es ermöglicht eine ganze Werkgruppe von sieben Kelchen eben diesem Hinrik Horn zuzuordnen, der 1397 und 1410 urkundlich in der Stadt Gardelegen bezeugt ist.

Der zweite von Horn signierte Kelch gehört dem Kloster Neuendorf, das unmittelbar östlich von der der Stadt angesiedelt ist. Von diesem ehemaligen Frauenkloster hat sich eine Backsteinkirche des 13. Jahrhunderts erhalten, die zwar weitgehend ihre mittelalterliche Ausstattung verloren hat, dafür aber zwei – sonst in der Region eher unterrepräsentierte – Gattungen beisteuern kann: Glasmalerei und Grabplatten. So besitzt die Kirche einen umfangreichen Zyklus von farbigen Glasfenstern aus der Mitte des 14. Jahrhunderts sowie etliche jüngere Glasmalereien. Zudem konnten seit dem 19. Jahrhundert neun Grabsteine gesammelt werden. Unter ihnen ist ein Memorienstein von besonderem Interesse; also ein Stein der eigentlich kein Grab bezeichnet, sondern an eine Stiftung erinnern soll. Gewidmet ist er einer gewissen Adelheid, der Frau des Adligen Erich von Gardelegen, der 1254 urkundlich bezeugt ist und offenbar eine wichtige Rolle bei der Gründung des Kloster spielte. Der Stein nennt den Todestag der Adelheid (10. Juni, leider ist das Jahr nicht genannt) und erinnert an eine jährlich an diesem Tag zu leistende Abgabe.

Die Dorfkirchen um Gardelegen herum sind besonders stark durch die naturräumlichen Gegebenheiten geprägt. So finden sich in der Region westlich von Gardelegen, wo das Sumpfgebiet des Drömling den Übergang zur Ohre bildet, als ältere Kirchengebäude praktisch nur Fachwerkkirchen. Diese reichen, aufgrund ihrer mangelhaften Haltbarkeit, natürlich nicht mehr bis in das Mittelalter zurück, verfügen aber ebenfalls noch über einzelne ältere Stücke, wie Altarreste oder Glocken. Die nächste Zone bildet eine Art Halbkreis, der sich von den Zichtauer Bergen im Norden als Bogen um Gardelegen herum bis zur Letzlinger Heide erstreckt und der geprägt ist durch magere Böden. In diesem Streifen begegnen nur einige wenige spätmittelalterliche Feldsteinkirchen.

Kirche Neuendorf von Osten

Dagegen gibt es nordöstlich der Stadt Gardelegen etliche Feldsteinbauten der älteren Epoche. Neue Dendrodaten zu den Kirchen in Algenstedt, Estedt, Groß Engersen und Wiepke belegen eine relativ gleichzeitige Entstehung dieser Kirchen. Offenbar errichtete man dort in den 1180er/90er Jahren zunächst hölzerne Primärbauten, die dann etwa im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts durch Feldsteinkirchen abgelöst wurden. Dabei zeichnet sich das jeweilige Mauerwerk dadurch aus, dass man zwar unregelmäßige Feldsteine verwendete, diese aber lagig versetzte.

Die Kirche von Algenstedt sei an dieser Stelle noch etwas näher vorgestellt. Neben einem mutmaßlichen Holzbau der 1190er Jahre, aus dem wohl Reste wiederverwendet wurden und der aus rechteckigem Chor und breiterem, ebenfalls rechteckigem Schiff bestehenden Kirche aus der Zeit um 1215, wurde dort um 1349 (dendrodatiert!) ein quadratischer Turm in Schiffsbreite angebaut, dessen Untergeschoss gewölbt ist. Dieser Turm zeigt bereits das völlig regellose Mauerwerk das für das Spätmittelalter typisch ist. Noch später (aber wohl noch im Mittelalter) wurde der Turm auf die heutige Höhe aufgestockt.

Neben einer inschriftlich auf 1513 datierten Taufe ist in Algenstedt das Geläut von besonderem Interesse. Es bestand noch bis zum Jahr 1917 aus vier mittelalterlichen Glocken. Vom Umfang her entsprach es damit einem städtischen Geläut. Bis heute haben sich drei dieser Glocken erhalten. Von außergewöhnlicher Bedeutung ist dabei die große Glocke, denn sie kann dem Opus der 1505 in Gardelegen tätigen Glockengießer Hinrik van Kampen und Arnd van Wou zugerechnet werden. Diese Glocke besitzt einen exzellenten Klang und eine perfekte äußere Gestaltung. Klanglich herausragend ist auch die (heute) zweitgrößte Glocke, ein mit Medaillons verziertes Stück der Zeit um 1300. Die kleine Glocke zeigt in der Datumsangabe zwar keine Hunderter und Tausender (also nur „xviiii“ = 19), ihre Gestalt belegt jedoch, das sie aus dem Jahr 1519 stammt. Die Ausführung der Buchstaben lässt sie zudem sogar einem bekannten Glockengießer zurechnen: Arnd Blome, der in der Altmark zwischen 1515 und 1525 belegt ist.

So bieten die Kirchen der Region um Gardelegen einmalige Einblicke in die Religiosität des Mittelalters. Gerade ihre Abgeschiedenheit (und die Tatsache, dass die Region lutherisch wurde) sorgte dafür, dass einmalige Schätze bis heute bewahrt wurden. Sie sprechen zu uns heute und wir haben die Aufgabe dieses Erbe künftigen Generationen zu bewahren.

BUCHTIPP

Matthias Friske
Die mittelalterlichen Kirchen in der südwestlichen Altmark
Geschichte – Architektur – Ausstattung
Kirchen im ländlichen Raum, Bd. 10

303 Seiten, 228 Abb.
Preis: 30,00 Euro
ISBN 978-3-86732-405-2

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Sakralbauten in der Diaspora

Die Geschichte des katholischen Kirchenbaus in Berlin und Brandenburg nach der Reformation beginnt im Wesentlichen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (St. Hedwig war die einzige Kirche vor 1800). Die ersten Katholiken in der Stadt Berlin waren vor allem Diplomaten und Gäste.

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Lesetipp

Seit über eintausend Jahren bestimmten Glocken das Leben der Menschen in Europa, strukturierten den Tag – und Jahresablauf. Eingeführt durch irische Mönche im 8. Jahrhundert erfüllten Glocken die vielfältigsten Funktionen, welche am Ende des 19. Jahrhunderts durch verschiedene technische Entwicklungen zunehmend abgelöst wurden. Heute nehmen wir Glocken vornehmlich im Zusammenhang mit Kirchen und ihren Festen wahr.