Kulturerbe Oderbruch

Uwe Donath ist Regionalbetreuer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V. und zuständig für die Landkreise Märkisch-Oderland und Oder-Spree.

Kirchen als prägende Elemente der Landschaft

Seit 2011 vergibt die Europäische Union das Europäische Kulturerbe-Siegel an Stätten, die symbolisch für die europäische Einigung sowie für die Ideen Europas stehen. Unter dem Motto: „Oderbruch – Menschen machen Landschaft“ erhielt im vergangenen Jahr eine Region diese Auszeichnung, die in besonderer Weise durch eine vom Menschen geformte Natur und wechselvolle Ereignisse der europäischen Geschichte geprägt ist. Inzwischen tragen europaweit sechzig Stätten das Siegel, davon sechs in Deutschland, wobei mit dem Oderbruch erstmals ein ganzes Gebiet prämiert wurde.

Tradition wird gepflegt in Heimatstuben und Dorfmuseen. Schöpfwerke sowie Schiff- und Windmühlen zeigen die technische Entwicklung, Bodenfunde bezeugen die Siedlungsgeschichte. Älteste Baudenkmale sind die Dorfkirchen. So verwundert es nicht, dass allein acht Kirchen als Orte des kulturellen Erbes dieser Landschaft im Bericht genannt werden. Insbesondere würdigt man das Engagement der Bewohner für die Erhaltung der Gebäude und die vielfältige kulturelle Nutzung im Sinne des Zusammenlebens. Die Dorfkirchen Neutornow und Altwustrow, die Kolonistenkirche in Sietzing, die Marienkirche in Wriezen, die Ersatzkirche Altwriezen, die Schul- und Bethäuser in Altlangsow und Wuschewier sowie die Kirchenruine in Podelzig sollen im Folgenden vorgestellt werden.

MITEINANDER

„Menschen machen Landschaft“ – so lautet der Untertitel in der Bewerbung um die Auszeichnung als europäisches Kulturerbe. Gerade die so unterschiedlichen Kirchen des Oderbruchs dokumentieren das Engagement der Bewohner. Mit großer Achtung und Liebe vor dem Althergebrachten gingen die Bürger zu Werke und legten, wo es sinnvoll schien, selbst Hand an. Kirchenmitglieder und Nichtchristen sehen sich in gemeinsamer Verantwortung, das kulturelle Erbe vor dem Verfall zu bewahren und zugleich bisherige Nutzungsmöglichkeiten zu erweitern. Örtliche Fördervereine schaffen die Voraussetzungen, dass sich weitere Geldgeber, darunter der Förderkreis Alte Kirchen, und Sponsoren fanden, um die notwendigen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten in Angriff zu nehmen.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich eine Bürgerbewegung zusammengefunden, die vielen Dörfern zu neuem Schwung verholfen hat. Fördervereine fusionierten mit dörflichen Initiativen und kommunale Stiftungen kooperierten mit kirchlichen Bemühungen um die Bewahrung der in die Jahre gekommenen Bauten. „Unser Dorf hat Zukunft“, ein bundesweiter Wettbewerb, der die Dorfentwicklung, wie auch die Bewahrung historischen Erbes und das Miteinander in der Gemeinschaft würdigt, ist solch ein Beispiel.

1 Bauernkirche Altwustrow

Im Unterschied zu der nachfolgend unter Punkt 3 beschriebenen Kirche in Neutornow entstand die Kirche in Altwustrow ohne Genehmigung des Landesherrn. „Gott zu Ehren hat eine christliche Gemeinde nehmlich Altwustrow Anno 1789 dieses Gotteshaus aus eigenen Mitteln neu erbauet“ – so kündet es eine Tafel seitlich hinter dem Altar. Es waren dreizehn Familien des Rundlingsdorfes, Bauern und Fischer, die eine protestantische Fachwerkkirche im Stil einer Scheune errichteten. Die Gestaltung des Innenraums ist bauzeitlich im Stil des Frühklassizismus gehalten. Die Ausstattung besteht aus Kanzelaltar, Emporen, einem Taufengel und es dominieren weiße und goldene Farbtöne. 1832 wurde der Turm hinzugefügt, 1845 eine Orgel der Firma Dinse eingebaut. Besonders auffällig ist die farbige Decke: 1890 wurden die bemalten Holzbalken mit Zeitungspapier als Malgrund überklebt und neu gefasst.

Bei der aufwendigen Sanierung in den Jahren 2001 bis 2007 wurde leider hier wie an anderen Stellen der Feuchtigkeit nicht genug Beachtung geschenkt, weswegen es zu neuerlichen Schäden kam, die 2021/22 mit besonderer Sorgfalt beseitigt wurden.

Am 21. August 2022 konnte die Altwustrower Kirche, die zu den wenigen Oderbruchkirchen dieser Zeit zählt, und deren reizvolle bäuerliche Innenausstattung bis heute nahezu vollständig erhalten ist, wieder in Dienst genommen werden. Sie steht zum Besuch offen.

2 Marienkirche Wriezen

Einst als Kathedrale des Oderbruchs bezeichnet, ereilte die mächtige gotische Backsteinkirche das Schicksal der ganzen Stadt – im April 1945 fiel sie den Kampfhandlungen zum Opfer. Der Turm wurde wieder aufgebaut, für die Gottesdienste im südlichen Chorschiff eine Behelfskirche eingerichtet. In den 1990er Jahren begannen umfangreiche Sicherungs- und Teilaufbauarbeiten am Kirchenschiff, inzwischen ist das Bauwerk „unter Dach und Fach“ und im Oktober 2021 konnte Richtfest gefeiert werden – nach altem Brauch im Beisein von Bürgermeister und Pfarrer und vieler Bürger von Wriezen. Künftig soll die Marienkirche gemeinsam von der Gemeinde, der Stadt und den Schulen für Veranstaltungen genutzt werden. Die engagierten Mitglieder des 1991 ins Leben gerufenen Fördervereins, zahlreiche Geldgeber und die Menschen im Oderbruch hoffen auf einen baldigen Abschluss der Sanierungsarbeiten.

3 Dorfkirche Neutornow

Hoch über der Oderebene erhebt sich die Kirche als Landmarke – ein heller Putzbau, 1770 auf Weisung des Königs Friedrich II. für die Kolonisten errichtet. Zu Fuß gelangt man über einen Hohlweg hügelauf und findet auf diesem malerischen Friedhof das Grab Louis Henri Fontanes, Vater des Dichters Theodor Fontane. Dieser Ort lässt den ganzen Reiz der Oderlandschaft erahnen; der Blick schweift über Altarme des Flusses, Polder und Wiesen. Die Kirche erhielt ihren imposanten Turm erst 1877 – gut hundert Jahre später. Die alte Turmuhr wird auch heute noch von Hand aufgezogen.

4 Kirchenruine Podelzig

Podelzig, ein Dorf mit 850 Einwohnern, gilt als Tor zum Oderbruch. Während der Kriegshandlungen 1945 lag der Ort in der Hauptkampfzone und war am Ende zu 85 Prozent zerstört worden. Die schwer beschädigte Kirche wurde den wenigen Überlebenden und vielen Umsiedlerfamilien zur Entnahme von Baumaterial für Neubauernhäuser freigegeben und verfiel. Seit 1990 engagierten sich die Podelziger für eine Rettung des Baus. 2005 fand man eine akzeptable Lösung, indem die noch vorhandenen Teile der Außenmauern des Kirchenschiffs gesichert, der Kirchturmstumpf fast bis in seine ursprüngliche Höhe aufgemauert, überdacht und mit einer Aussichtsplattform versehen wurde, die über eine außen angebaute Wendeltreppe erreichbar ist. Von oben bietet sich dem Besucher ein weiter Blick in die reizvolle Landschaft. Unterschiedliches Mauerwerk macht sichtbar, dass der Turm im Laufe der sechshundertjährigen Geschichte drei Mal massiv beschädigt wurde. Im Innern entstand ein geschlossener Raum, der für ein vielseitiges Veranstaltungsleben genutzt wird. Der freie Blick ins Glockengeschoss fasziniert viele Gäste, hier verbindet sich modernes Dorfleben mit dem Gedenken an Zerstörung und Verlust.

An die kurbrandenburgische Geschichte erinnert eine Marmorbüste Konrad von Burgsdorffs (1595–1652), seinerzeit einer der hochrangigsten Heerführer. Es handelt sich um eine Replik der bis 1945 im Berliner Tiergarten aufgestellten Figur. Im Jahr 2008 wurde der beschädigte Zinnsarkophag des Feldherrn bei archäologischen Grabungen am Berliner Schlossplatz in einem verschütteten Gewölbe des ersten Berliner Doms zusammen mit den Särgen anderer Mitglieder der Familie entdeckt.

Der Kirchturm mit Aussichtsplattform ist nach Anmeldung zu besichtigen, die Ruine ist frei zugänglich.

Podelzig gewann 2021 im bundesweiten Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“, denn das bürgerschaftliche Miteinander prägt die Dorfentwicklung weiterhin, es gibt ein reges Vereinsleben in und an dem neuen alten Turm. Der Heimatverein plant eine Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Schlachtfeldes, mehr als 200 tote Soldaten und 62.000 Granaten konnten allein in den letzten Jahren geborgen werden. Was mit dem multifunktionalen Kirchturm begann, setzt sich in Aktivitäten fort, die zum friedlichen Zusammenleben mahnen.

5 Kolonistenkirche Sietzing

Eine erste Kolonistenkirche gab es in Sietzing bereits 1761, doch der einfache Fachwerkbau hielt nicht lange. 1803 wurde auf den alten Grundmauern ein neues Bethaus errichtet, das im Wesentlichen bis heute steht. In den 1990er Jahren war die Kirche ein ernster Schadensfall, 2015 wurde ein Förderverein zur Rettung des Gebäudes gegründet. Es gelang ein aufwändiger Rückbau von tragenden Teilen, Turm und Gefachen. Alles Charakteristische des alten Bauwerks blieb, heutige Anforderungen nach Küche und WC konnten berücksichtigt werden. Durch die Entfernung einer in den 1970er Jahren vorgenommenen Raumteilung (Winterkirche) entdeckte man den Kanzelaltar neu: Die Kanzel, überdacht mit dem Schalldeckel, befindet sich etwas erhöht hinter dem Altartisch.

Sietzing ist ein anschauliches Beispiel für bürgerschaftliches Engagement und kreative Raumnutzung. Mitten im Dorf stehend wirkt der vollständig sanierte Fachwerkbau einladend, als Radfahrerkirche ist er verlässlich geöffnet, zeigt die Kirche wechselnde Ausstellungen und unterschiedliche kulturelle Angebote.

6 Schul- und Bethaus Altlangsow

In dem kleinen Dorf Altlangsow unweit von Seelow wurde 1832 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel ein Schul- und Bethaus errichtet. Der Backstein-Fachwerkbau mit Satteldach beherbergte den Betsaal, die Einklassenschule und die Lehrerwohnung. Der architektonisch interessante Betsaal gliedert sich in ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe. Das Hauptschiff wird von einem hölzernen Tonnengewölbe überspannt.

Original erhaltene Bänke stehen vor dem Haus und laden zum Verweilen ein. Beeindruckend ist die Helligkeit im Raum, ein großes Fenster an der Westseite schafft eine besondere Atmosphäre.

Bis 1974 wurde der Betsaal für kirchliche Zwecke genutzt, danach dem Verfall preisgegeben. Anfang der 1980er Jahre begann eine denkmalgerechte Rekonstruktion, die sich bis Mitte der 1990er Jahre hinzog. Ein 1991 gegründeter Förderverein nutzt das Haus für kulturelle Zwecke. Von März bis Oktober finden hier Ausstellungen bildender und angewandter Kunst statt, es gibt Lesungen und kleinere musikalische Veranstaltungen.

7 Ersatzkirche Altwriezen

Seit 1842 prägte ein mächtiger Fachwerk-Saalbau mit einem 27 Meter hohen Turm am Ufer der Alten Oder das Ortsbild von Altwriezen. Nach 1945 gab es nur geringe Kriegsschäden, aber es mangelte an Kraft, Geld und Material. So folgte 1973 der Abriss. Seitdem dient eine Notkirche mit Glockenschauer als Ersatz. Ein Förderverein erinnert daran: Da fehlt was! Deshalb haben sich dessen Mitglieder den schrittweisen Wiederaufbau zum Ziel gesetzt, beginnend mit dem Turm, „denn eine Kirche gehört ins Dorf und bedeutet gleichzeitig Leben und Kultur“.

8 Schul- und Bethaus Wuschewier

Der seltsame Ortsname des 1757 gegründeten Kolonistendorfes bezieht sich auf ein Fließ, Wuschewiere, an dem die Siedlung entstand. Schon sieben Jahre später errichtete man ein stattliches Fachwerkhaus, das sich äußerlich in keiner Weise von den umliegenden Behausungen unterschied. Wuschewier ist wohl das eindrucksvollste Beispiel an Einfachheit und Multifunktionalität. Der Bau vereinte Betsaal, Schulstube, Lehrer- und Hirtenwohnung unter einem Dach. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Erweiterungen nötig, denn 1850 gab es 140 Schulkinder. Und obwohl mehrere An- und Umbauten erfolgten, Flutkatastrophen massive Schäden verursachten, blieb das Gebäude mit dem Rohrdach bis heute erhalten. Der Kirchturm wurde 1855 errichtet, Glockenläuten kam in Gebrauch. Bis dahin war der Ruf zum Gottesdienst von Nachbar zu Nachbar durch Klappbrettchen angekündigt worden. Konfessionelle Differenzen prägten das soziale Leben, die Dorfgemeinschaft war tief gespalten. Die Altlutheraner lehnten die neue Gottesdienstordnung ab, viele von Ihnen wanderten in die USA aus. Die Schulchronik berichtet von Auswanderungswellen in den Jahren 1842, 1848 und 1856.

Man betritt den Kirchsaal durch einen kleinen Vorraum von der Straße aus. Der Innenraum überrascht durch seine Großzügigkeit. Der Fußboden ist mit roten Ziegeln ausgelegt, die Emporenbrüstungen tragen ein gedecktes Rot. Der einfache Altar, ein Taufstein, ein Lesepult und die Mickley-Orgel von 1850 ergänzen die Innenausstattung.

1995 gründete sich wegen dringenden Sanierungsbedarfs ein Förderverein, zahlreiche Unterstützer brachten das Geld für die notwendigen Arbeiten auf. Die Einweihung nach Abschluss der Sanierung des Betsaals fand am 27. September 1997 mit einem Festgottesdienst statt.

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