Allegorien und Evangelisten

Rudolf Bönisch ist Diplom-Geologe. Er war Leiter und Initiator von zwei internationalen Orgelmusikfestivals. Seit nunmehr zehn Jahren beschäftigt er sich mit den sakralen Bildwerken in Kirchen Ost-, Mittel- und Norddeutschlands.

Das Melzower Renaissanceretabel von 1610

Noch heute haben die aus dem Mittelalter erhalten gebliebenen Altarretabel eine große Wirkung auf uns. Beim Betrachten werden wir begeistert vom glänzenden Gold, von strahlenden Farben, von Brokatgewändern, Kronen und Nimben. Wir merken schnell, dass die figürlichen oder gemalten Heiligen mit ihren markanten Attributen nicht von unserer Welt sind. Sie stehen eine große Stufe höher und schauen uns aus dem Himmel an, der mit Sternen und glitzernden Strahlen erfahrbar gemacht wurde.

Die im ersten Jahrhundert nach der Reformation neu errichteten Altaraufsätze berühren uns nicht minder, aber völlig anders. Wir erkennen in den übereinander angeordneten bildlichen Darstellungen den zum Menschen gewordenen Gott. Jesus Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern befindet sich direkt über dem Altartisch, an dem im Gottesdienst das Heilige Abendmahl gespendet wird. Darüber wird uns seine Leidensgeschichte meist mit einer figurenreichen Szene der Kreuzigung auf Golgatha gezeigt. Die Osterfreude mit dem auferstandenen Christus zeigt das Bild im oberen Teil der oft bis zur Kirchendecke reichenden Altaraufsätze. Weitere Bilder aus dem Leben Jesu können die Bedeutung steigern: Seine Geburt, die Taufe, die Grablegung oder Szenen aus der Zeit vor seiner Geburt.

Mit Farbe und Engelsfiguren hat man bei der Herstellung des Prinzipalstückes der Kirche nicht gespart. An jede Stelle der Altaraufsätze möchte man blicken, alles erkennen und für sich deuten. So geht es uns auch bei der Betrachtung des Renaissancealtars von 1610 im kleinen Ort Melzow in der Uckermark. Dieses Schnitzwerk ist einer von ca. dreißig Altaraufsätzen aus dieser Epoche in der auch landschaftlich überaus reizvollen Gegend mit Hügeln und Seen, die von der letzten Eiszeit geprägt wurde.

Neben den geschnitzten biblischen Geschichten sind am Melzower Altaraufsatz auch die Schreiber der Evangelien zu sehen. Matthäus mit dem Engel, Markus mit dem Löwen, Lukas und der Stier und Johannes mit dem Adler weisen auf die von ihnen verfassten Evangelien als wichtigste Schriften des Neuen Testamentes hin. In der ersten Zeit nach der Reformation war es üblich, dass die Darstellung der Evangelisten an den Altar gehörte. Dort wurde alles Bedeutsame für die gläubigen Christen vereint. Reichlich hundert Jahre später sollte auch noch die Schriftauslegung unmittelbar über dem Abendmahlstisch vorgenommen werden. So nahm man im Falle von Melzow das Bild von Jesu Kreuzigung aus dem Altaraufsatz heraus und baute an dieser Stelle die vorher separat stehende Kanzel ein. Dieser Umbau hatte zur Folge, dass fortan am Altar – ab dieser Zeit als Kanzelaltar zu bezeichnen – Evangelistenreliefs zweifach zu sehen waren: am Altaraufsatz und an der Kanzel.

ALTARAUFSATZ MELZOW

Mit der anstelle des Kreuzigungsreliefs nachträglich eingebauten Kanzel von 1610.

Der Kanzeleinbau ist heute noch daran zu erkennen, dass der Markus mit dem Löwen einerseits und Johannes mit dem Adler andererseits teilweise vom Altaraufsatz verdeckt werden. Vielerorts gab es im 20. Jahrhundert Rückbauten der Kanzel, um den Altaraufsatz wieder in der ursprünglichen Form zu zeigen. In Melzow konnte daran nicht gedacht werden, da das geschnitzte Kreuzigungsrelief verloren war. Verloren ging übrigens auch die Figur des Auferstandenen aus dem Relief im oberen Geschoss des Altarwerkes.

Der Altaraufsatz in Melzow stammt mit großer Sicherheit aus einer Kunsttischlerwerkstatt in Prenzlau. Dieses wissen wir nur vom noch in Einzelteilen existierenden Altar aus der Marienkirche in Angermünde, denn der dortige Altar stammt inschriftlich aus der uckermärkischen Stadt. In dieser Werkstatt, in der Tischler, Bildschnitzer und Maler arbeiteten, muss es eine große Anzahl von Druckgraphiken gegeben haben. Wir können sicher davon ausgehen, dass für sämtliche Reliefs biblischer Geschichten und für die Figuren an den Altären der gesamten Prenzlauer Altargruppe Kupferstiche als Schnitzvorlagen genutzt wurden. Einige druckgraphische Vorlagen davon sind bereits in früheren Heften dieser Reihe (zu den Altären in Meichow 2019 und in Schönfeld 2021) sowie in den Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins (St. Marien Angermünde 2017, St. Nikolai Prenzlau 2021) vorgestellt worden.

Die vier Evangelisten

Oben: Kupferstichvorlagen von Philipp Galle nach Anthonie van Blocklandt (um 1575)
Unten: Holzreliefs am Altaraufsatz Melzow (1610)

Für die geschnitzten Evangelisten am Altaraufsatz in Melzow konnten die druckgraphischen Vorlagen ermittelt werden. Die rund 23 x 28 cm großen Stiche schuf der niederländische Kupferstecher Philipp Galle um das Jahr 1575, also etwa 35 Jahre vor der Errichtung des Altars. Galle wiederum nutzte für seine vier ovalen Kupferstiche mit auf den Wolken schwebenden Evangelisten Zeichnungen von Anthonie van Blocklandt, der ebenfalls in den Niederlanden tätig war. Der geschnitzte und, wie alle Figuren am Altar, kolorierte Matthäus mit dem auf die Bibel weisenden Engel ist ziemlich genau vom Stich übernommen worden, allerdings sitzt er in Melzow auf einem Felsen. Markus mit zwei Büchern und dem Tintenfass schwebt auch als Schnitzfigur. Der auf dem Stich geflügelte Löwe wurde von Holzbildhauer völlig anders dargestellt. Lukas sitzt auch nicht mehr auf einer Wolke, sondern auf einem Steinquader. Der Stier ist nicht mehr geflügelt. Der stets bartlos gezeigte Evangelist Johannes wurde vom Bildhauer ebenfalls auf einen Felsen gesetzt und sein Attribut, der Adler, gegenüber dem Stich stark verändert. Der Vogel hält dem Evangeliumschreiber das Tintenfass. Mit der weiten Verbreitung der Kupferstiche und der Nutzung dieser Entwürfe für die Gestaltung der Altaraufsätze kam somit vor mehr als 400 Jahren die große europäische Kunst in das kleine Dorf in der Uckermark.

Der Altaraufsatz ist mit einer dritten Gruppe von Holzskulpturen verziert. Es handelt sich dabei meist um nackte Frauenfiguren, die die Tugenden symbolisieren. Diese Aufstellung von Allegorien als Hinweis auf die sittliche Vollkommenheit im christlichen Sinn im Gegensatz zu Laster und Sünde gehörte auch zu einem Renaissancealtar. Bei den Tugenden wird zwischen den Kardinaltugenden und den christlichen Tugenden unterschieden. Zu der ersten Gruppe gehören Klugheit (Prudentia), Gerechtigkeit (Justitia), Tapferkeit (Fortitudio) und Mäßigung (Temperantia) als klassische Grundtugenden. Auf die Gebote des Alten Testamentes und deren Erneuerung durch Christus zum Beispiel in der Bergpredigt gehen die christlichen Tugenden Glaube (Fides), Hoffnung (Spes) und Liebe (Caritas) zurück. Weitere Allegorien können hinzukommen, so zum Beispiel die Geduldsamkeit (Patentia).

Am Melzower Altaraufsatz befinden sich die Figuren von fünf Tugenden. Der Bildschnitzer hat als Vorlagen dafür Kupferstiche der acht Tugenden vom Nürnberger Antonius Eisenhoit aus dem Jahr 1591 verwendet. Die gedruckten Stiche wurde von Balthasar Caymox verlegt und gelangten auch nach Prenzlau. 19 Jahre später wurden diese Stiche für den Altar in Melzow, aber auch für die Altaraufsätze in Blindow (1601) und Hetzdorf (1620) sowie in Form von Gemälden am Flügelaltar der Dorfkirche Möbiskruge in der Niederlausitz (1596) genutzt. Von mehreren der in halbrunden Nischen und auf der Spitze des Altars stehenden Holzfiguren fehlen heute die Attribute, so dass deren Bedeutung oft nicht mehr zu erkennen ist. Durch die Kenntnis der Kupferstiche können die Tugenden jedoch rekonstruiert werden. So sind diese nun ausgeschnitten aus den rechteckigen Graphikblättern mit Landschaftshintergründen von Antonius Eisenhoit in voller Schönheit in der Abbildung zu bewundern.

Im Hauptgeschoss des Altaraufsatzes stehen die Personifikationen von Spes mit dem großen Ruder sowie dem Anker zu ihren Füßen und Justitia mit Schwert und Waage. Beidseitig vom Auferstehungsrelief wurden Prudentia und Fides angebracht. Erstere hält den die Erkenntnis fördernden Spiegel in der rechten und statt einer Schlange einen Himmelsglobus in der linken Hand. Fides, wie alle personifizierten Tugenden von einem großen Tuch umfangen, hält ein Kruzifix in der Hand, welches sie unverwandt betrachtet. Obenauf steht die Temperantia. Die mit dem langen Gewand bekleidete Frauengestalt gießt Wasser aus einer Kanne in eine Schale. Ihren linken Fuß hat sie auf einen auf dem Boden liegenden leeren Krug gestellt. Der unter jedem Kupferstich stehende lateinische Text ist zur Erklärung neben die Abbildungen gesetzt.

Dieser Beitrag zu den Evangelisten und Tugenden ist Bernd Janowski gewidmet, der in unmittelbarer Nähe zur Dorfkirche in Melzow wohnt. Der langjährige Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V. und Redakteur des Jahresheftes „Offene Kirchen“ hat sich intensiv mit den Altaraufsätzen aus der Zeit um 1600 in der Uckermark beschäftigt. Im Spätherbst 2022 bat er den Autor, sich umfassend mit den Bildwerken der Altaraufsätze und deren druckgraphischen Vorlagen zu beschäftigen. Bernd Janowski wäre dankbar, wenn es zu dieser überaus bedeutenden Fülle frühneuzeitlicher Kirchenkunst in der Uckermark weitere Restaurierungen, eine umfassende Monographie zu den Schnitzwerken und für die einzelnen Objekte Faltblätter vor Ort sowie zum Beispiel eine „Straße der uckermärkischen Renaissancealtäre“ gäbe. Auf diese touristische Attraktion kann bereits an den durch das Land führenden Autobahnen mittels touristischer Unterrichtungstafeln hingewiesen werden.

Die Fotos für diesen Beitrag hat der Verfasser aufgenommen und bearbeitet. Für die Zusammenstellung der Kupferstiche von Antonius Eisenhoit wurde das von Christoph Stiegemann herausgegebene Buch Wunderwerk. Göttliche Ordnung und vermessene Welt (Mainz 2003) genutzt und die Kupferstiche der Evangelisten stammen aus der privaten graphischen Sammlung des Autors (GSRB 2301-2304).

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