Von England in die Mark
Dr. Peter Knüvener ist Direktor der Städtischen Museen Zittau. Er promovierte zur mittelalterlichen Kunst in der Mark Brandenburg.
Alabasterretabel in brandenburgischen Dorfkirchen
Zu den ganz besonderen Raritäten unter den sakralen Kunstschätzen gehören die aus England importierten Alabasterretabel des frühen 15. Jahrhunderts. Das sind Altarretabel mit grazilen Reliefs aus dem weißen Stein. Teilweise sind sie farbig gefasst, doch die Wirkung des Steins bestimmt den Gesamtauftritt dieser für unsere Sehgewohnheiten sehr merkwürdigen Kunstwerke.
Nicht nur aufgrund ihres Materials, sondern auch durch die für norddeutsche Sehgewohnheiten fremdartigen Kompositionen und ihren charakteristischen Stil sind die Retabel leicht zu erkennen und beanspruchen daher eine herausragende Exklusivität. Das war sicherlich auch schon zur Entstehungszeit so, weshalb die besagten Retabel sicherlich für Auftraggeber mit besonderen Ansprüchen eine besondere Attraktivität innehatten: Man brauchte Verbindungen in ferne Länder – denn die Retabel wurden in England, in Nottingham, hergestellt. Damit galt für diese in großer Zahl produzierten Retabel dasselbe wie für eine Gruppe flämischer Schnitzaltäre ähnlicher Zeitstellung, die sich ebenfalls durch ihr charakteristisches Erscheinungsbild von der lokalen Produktion abhoben.
In der im Nordwesten der Mark Brandenburg gelegenen Prignitz befindet sich an der Elbe das Dorf Mödlich, in dessen Kirche ein umfangreiches Alabasterretabel aufgestellt ist. Die Reliefs und Skulpturen zeigen sich heute in einer Rahmung des 19. Jahrhunderts, die eine solche aus dem 16. Jahrhundert, als die Kirche ihre ungewöhnlich qualitätvolle Ausstattung erhielt, ersetzte. Ob sich das Werk schon im Mittelalter in der Dorfkirche befand, ist nicht sicher. Zwar ist Mödlich ein relativ langgestrecktes und ehemals wohlhabendes Marschhufendorf, das im 13. Jahrhundert vermutlich u.a. von niederländischen Siedlern im Zuge der Ostsiedlung angelegt wurde, was für fortdauernde überregionale Kontakte gesorgt haben könnte; außerdem stand die Kirche unter landesherrlichem Patronat, doch erstaunt die Wertigkeit dieses Werkes an diesem abgelegenen Dorf schon.
Immerhin muss man sich klarmachen, an wie wenigen Orten deutschlandweit überhaupt solche Retabel erhalten blieben. Eines ist zum Beispiel das Relief eines Gnadenstuhls in der großartigen Soester Wiesenkirche, einer Kirche wohlhabender Kaufleute in einer bedeutenden Hansestadt. Man findet solche Retabel im Ostseeraum – z.B. in der Danziger Marienkirche – bis nach Schweden (Linköping), aber auch weit westlich, in Frankreich und selbst Spanien.
Wie dem auch sei, es bleibt festzuhalten, dass es sich um eines der umfangreichsten englischen Alabasterretabel auf deutschem Boden mit zudem ausgezeichnet erhaltener mittelalterlicher Fassung handelt.
Diesem Stück hinzuzufügen ist ein leider schon im frühen 20. Jahrhundert zerstörtes Werk. Das befand sich in der Kirche in Lindenberg, heute Landkreis Oder-Spree. Die dortige Kirche wurde als bedeutender barocker Zentralbau zwischen 1667 und 1669 errichtet und erhielt eine zeitgenössische barocke Ausstattung. 1917 brannte sie ab und wurde wieder aufgebaut. Die Kunstschätze wurden weitenteils vernichtet. Bei dem hier interessierenden Retabel handelte es sich nicht um das Hochaltaretabel, denn jenes wurde mit der Errichtung des Baus neu gefertigt. Das Alabasterretabel war offenbar aus einem älteren Kirchenbau übernommen worden und ist aus Pietät oder Kunstsinn erhalten geblieben. Es zeigte Renaissanceornamentik um 1600 mit Säulen und Kapitellen, und es nahm die Alabasterreliefs auf.
Hier wurden also offenbar mittelalterliche Kunstwerke wiederverwendet, wie man es in der Mark ja oft findet. Berühmt war das Retabel in der nahen Beeskower Marienkirche (1945 verbrannt) aus dem späten 16. Jahrhundert, um nur ein Beispiel zu nennen. In der Zeit um 1600 schätzte man die mittelalterlichen Kunstwerke in lutherischen Kirchen offenbar besonders und wertete sie durch neue Rahmungen auf.
In den Lindenberger Renaissancealtar waren sechs Alabasterreliefs eingelassen, die jeweils zu zweien übereinander angeordnet waren und eine Rahmung aufwiesen, wie man sie von Schnitzaltären her kennt. Es handelt sich um die Reliefpaare Verkündigung/Epiphanie, Himmelfahrt/Auferstehung sowie Gnadenstuhl/Marienkrönung. Eine Größendifferenz liegt nur bei letztgenanntem Paar vor, denn der Gnadenstuhl ist deutlich größer als die Krönung. Die Reliefs könnten sich schon im Mittelalter in einem Vorgängerbau befunden haben. Außerdem kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Reliefs aus einer anderen Kirche stammen – schon damals ist es üblich gewesen, Kunstwerke zu verkaufen oder auch zu verschenken.
Im Kunstdenkmälerinventar von 1909 ist zwar von „Reliefs in weißem Marmor“ die Rede, doch sind selbige nicht abgebildet, sodass man nicht ahnen konnte, welcher Art diese waren. Es ist aber ein großes Glück, dass der Perleberger Fotograf Max Zeisig, der mit der Dokumentation der märkischen Kunstdenkmäler betraut worden war, das Lindenberger Retabel fotografiert hat. Eines seiner Fotos ist sogar in einer wenig beachteten Publikation 1922 veröffentlicht worden, dort ist von „Hochrelieftafeln aus Alabaster in barockem Rahmen“ die Rede und es wurde das Mittelteil mit Gnadenstuhl und Marienkrönung abgebildet. Fotos der anderen Teile konnten im Nachlass des Fotografen Max Zeisig im Perleberger Museum aufgefunden werden – ein großes Glück! Eine Gesamtaufnahme ist allerdings bisher nicht bekannt.
Die Lindenberger Reliefs lassen sich bestens in die Familie der englischen Alabasterreliefs eingliedern: Man findet für diese Kompositionen zahlreiche sehr enge Anknüpfungspunkte; oft sind die Reliefs nur wenig variiert, was den Wiedererkennungseffekt begünstigt. Charakteristisch ist die insektenartige Schlankheit der Gestalten, extrem lang gezogene und schlanke Menschenbilder mit manchmal fast knochendünnen Schenkeln. Und dann frappieren die eigenartigen Bewegungen mit ungewöhnlich abgeklappten Händen. Auch wirken die Szenen oft stark bewegt, anders als viele der zeitgenössischen Reliefs in Mitteleuropa im sogenannten „Schönen Stil“ mit ruhiger, fast andächtiger Stimmung.
Auch aus kunsttechnologischer Sicht gibt es klar bestimmbare Details; gut erkennbar sind etwa die buckelartigen Applikationen am Hintergrund der Reliefs, die man bei zahlreichen besser erhaltenen Vergleichsbeispielen beobachten kann. Sie sind dort vergoldet – was die schwarzweißen Bilder natürlich nicht wiedergeben können. Aber auch sie zeigen klar, dass die Reliefs nur partiell gefasst waren: Besonders die Kleider zeigten die Alabasteroberfläche, während Inkarnate, Haare, Säume, Hintergrund und Bodenflächen oft farbig gestaltet waren. All das zeigt, dass es in Lindenberg einen Kunstschatz gab, der von der großen weiten Welt zeugte – ein Retabel, wie es selbst die wenigsten großen Museen in Deutschland ihr Eigen nennen können!
Das Lindenberger Retabel war sicher eines der am weitesten südlich gelegenen, denn es befand sich an einem Ort, wo man derartige Kunst überhaupt nicht vermuten würde. Es steht aber auch dafür, welche Überraschungen die hinsichtlich der mittelalterlichen Kunstwerke nach wie vor unterschätzte Kulturlandschaft der Mark Brandenburg bietet – besonders denen, die mit offenen Augen unterwegs sind!