Spätmittelalterliche „Kirchentresore“

Gordon Thalmann M.A. ist Denkmalpfleger und Bauhistoriker. Er leitet den Sachbereich Denkmalschutz im Landkreis Prignitz und forscht darüber hinaus zur mittelalterlichen Sakralarchitektur und -kunst im nordostdeutschen Raum.

Besondere Sakramentshäuschen in zwei Prignitzer Dorfkirchen

Sakramentsturm Uenze, KDM 1909

Dem aufmerksamen Kirchenbesucher werden schon einmal diese interessanten Wand- und Mauernischen mit Holzauskleidung und verschließbaren, vereinzelt auch vergitterten Türchen im Chor- sowie Altarbereich von mittelalterlichen Sakralbauten aufgefallen sein. Nun ist es kein Geheimnis, dass diese als Sakramentshäuschen bezeichneten „Kirchentresore“ zur Aufbewahrung des eucharistischen Leibes Christi also dem Allerheiligsten Sakrament und der Vasa sacra dienten. Nur Wenigen sind aber die seltenen vorreformatorischen Sakramentshäuschen in Form von turmartigen Kleinarchitekturen bekannt, die sich in vereinzelten Fällen noch in märkischen Dorfkirchen erhalten haben. Über ihre ursprüngliche Anzahl und Verbreitung ist so gut wie nichts bekannt. Wohl auch aus diesem Grund fanden sie als eigenständige Denkmalgattung bislang keinen nennenswerten Eingang in die kunsthistorische Forschung.

Ausnahmen bilden die wenigen erhaltenen Exemplare, die sich in größerer und prächtigerer Gestalt in europäischen Bischofs-, Kloster- und Stadtkirchen befinden. Kunstvoll in Sandstein oder auch Holz gefertigt, weisen die auch als „Tabernakel“ bekannten Werke in ihrem hochaufragenden und gestaffelten Aufbau eine pyramidenartige Architektur auf. Darüber hinaus besitzen diese Sakramentstürme aufwendiges Maßwerk und mit Knospen bzw. Kreuzblumen bekrönte Fialen. Mitunter sind sogar kleine Bildhauer- bzw. Schnitzskulpturen in Form von Engeln und Heiligendarstellungen eingestellt oder appliziert. Polychrome Farbfassungen spielen zudem eine wichtige gestalterische Rolle. Repräsentative Beispiele dieser Art begegnen einem heute noch – um die im weiteren Umkreis wohl bedeutendsten Vertreter zu nennen – in der St. Nikolaikirche Jüterbog, der St. Marienkirche Wittstock und in Fürstenwalde (Brandenburg) sowie im Doberaner Münster (Mecklenburg-Vorpommern).

Anders sieht es in den angesprochenen Dorfkirchen aus. Hier waren nicht die großen Meister am Werk, obwohl der architektonische Aufbau und die grundsätzliche Gestaltung in einfacherer Form deutliche Parallelen erkennen lassen. Ob es in den hier betrachteten Prignitzer Orten Uenze und Kleinow direkte Vorlagen und -gaben gab, ist wie so oft ungewiss. Jedoch haben sich in der nicht weit von diesen Dörfern entfernten Wunderblutkirche St. Nikolai zu Bad Wilsnack spärliche Fragmente von Fialen aus mittelalterlichem Hochbrandgips erhalten, die einst zu einem Sakramentsturm gehört und möglicherweise im greifbaren Umfeld der vorgenannten Dorfkirchen Vorbildcharakter gehabt haben könnten.

Sakramentsturm Uenze

Uenze

Die Kirche in Uenze, ein hochgotischer Feldsteinbau des späten 13. Jahrhunderts, der im Spätmittelalter 1492 (d) einen stattlichen Backsteinkirchturm erhielt, beherbergt einen dieser seltenen und faszinierenden Sakramentstürme. Er wurde bereits im 1909 erschienenen Band „Westprignitz“ des Kunstdenkmalinventars der Provinz Brandenburg mit einer kurzen Beschreibung erwähnt und zeichnerisch skizziert. Hier heißt es: „Sakramentshäuschen aus Eichenholz. Ursprüngliche Höhe etwa 3,20 m. Aus wenigen starken Holzklötzen (0,46 m im Quadrat) herausgearbeitet, nur drei waagerechte Fugen. Der Fuß aus zwei gekreuzten Hölzern bestehend, darauf ein Schaft, der aus Kreuzform ins Achteck übergeführt ist. Das Häuschen oben mit vier Eckfialen und dem Ansatz eines Mittelriesen.“

Mit Letzterem war eine einst vorhandene Spitze als mittige Bekrönung gemeint, die ziemlich rabiat abgesägt wurde – ein aus kunsthistorischer Sicht bedauerlicher Verlust, der das architektonisch-ästhetische Gesamtbild schmälert. Die wohl im späten 19. Jahrhundert in einem entwertenden Braunton erfolgte Überfassung unterstreicht dies zusätzlich. Der Blick in das Innere des Sakramentshauses, den Kirchentresor, lässt jedoch hoffen, dass wesentliche Teile der originalen Farbfassung erhalten blieben. Hier zeigt sich an den Wandinnenseiten ein intensiver Rotton, der auf den spitz zulaufenden Flächen der Verdachung von einem Weißton abgelöst wird. Auf die „Dachflächen“ wurde je Seite ein grünes Andreaskreuz gemalt. Ob dahinter eine tiefere Symbolik steht, muss vorerst offenbleiben, denn eine fachlich qualifizierte restauratorische Farbfassungsuntersuchung und kunsthistorische Bewertung fehlen bislang.

Der Uenzer Sakramentsturm konnte dendrochronologisch immerhin auf 1502 +/- datiert werden. Er steht damit möglicherweise zeitlich im Kontext zu den spätmittelalterlichen Bau- und Ausstattungsmaßnahmen an und in der Kirche. Der oben im Wesentlichen beschriebene architektonische Aufbau sei noch um wenige, aber wichtige Details ergänzt: Die Tür des mittigen Sakramentshauses wird von filigranen schmiedeeisernen Bändern gehalten, die an den Enden ein Blütenmotiv aufweisen. Noch kunstvoller und dekorativer ist das Schlossblech gearbeitet, das an die Beschläge der Sakristeischränke der Wilsnacker Wunderblutkirche erinnert.

Sakramentsturm Kleinow

Kleinow

Die aus grob behauenden Feldsteinen errichtete und mit einem Backstein-Blendengiebel architektonisch aufgewertete Kirche in Kleinow ist ein Sakralbau der Spätgotik. Er datiert nach bauhistorischer Untersuchung in das Jahr 1519 (d). Im Inneren des Saalbaus hat sich in der Südostecke des Chorraums, versteckt hinter dem Patronatsgestühl, ein vergleichbar seltener Sakramentsturm erhalten, der zur spätmittelalterlichen Erstausstattung dieses Gotteshauses gehört. Ein Sakramentshaus in Form einer ausgekleideten und verschließbaren Wandnische sucht man in der Kirche vergebens. Lediglich im gemauerten Altarblock befindet sich auf der Südseite eine flachbogig gewölbte offene Mauernische, die als unverschlossene Ablage genutzt wurde. Der Kleinower Sakramentsturm, der laut dendrochronologischer Datierung aus dem zweiten vorreformatorischen Viertel des 16. Jahrhunderts stammt, diente demnach zur Aufbewahrung der Vasa sacra, dem wertvollen sakralen Gerät.

Dafür spricht auch etwas, was bei der näheren Betrachtung des Möbels nur schemenhaft zu erkennen ist: Unter einer dünnen grauen, wohl erst im 19. oder 20. Jahrhundert aufgepinselten Farbschicht schimmert auf der zweiteiligen mit schmiedeeisernen Bändern befestigten Tür des hölzernen „Tresors“ eine rötliche Bemalung durch. Zu erahnen ist eine gerahmte und von kleinen Ranken umfangene Monstranz (liturgisches Schaugefäß zur Aufbewahrung des Allerheiligsten, der konsekrierten Hostie) – deutliches Zeichen dafür, welcher Zweckbestimmung der Sakramentsturm in Kleinow diente.

Er wurde komplett aus einem Eichenholzstamm gearbeitet. Sein ganzer architektonischer Aufbau ist eher gedrungen. Der Turm misst 2,40 m in der Höhe und 0,60 m in der größten Diagonalen. Auf einem kräftigen Standfuß folgt ein an den Kanten mit breiten Schiffskehlchen profilierter Schaft, auf dem das eigentliche Sakramentshaus mit verschließbarer Doppeltür sitzt. Dieses wird an den vier Ecken – vergleichbar mit Uenze – von kleinen spitzen Fialen bekrönt, auf denen sich „Knospen“ mit geschnitzten Motiven befinden. Mittig erhebt sich eine kräftige konische Spitze, die mit einer abgeflachten sternförmigen Bekrönung abschließt. Insgesamt wirkt die Arbeit auf den ersten Blick grob. Leider konnte die künstlerische und architektonische Qualität des Kleinower Sakramentsturmes noch nicht ausreichend beurteilt werden. Es fehlen bislang auch hier die notwendigen restauratorischen Untersuchungen, um im Vergleich den künstlerischen Wert dieses Kirchenmöbels einzuschätzen.

Die beiden in aller Kürze vorgestellten Sakramentstürme in Uenze und Kleinow bilden in jedem Fall besondere und außergewöhnliche sowie zudem selten erhaltene Beispiele mittelalterlicher Kirchenausstattung dieser Form – nicht nur in der Prignitz und der Mark Brandenburg, sondern auch im deutschsprachigen, wenn nicht sogar im gesamteuropäischen Raum.

AUSSERGEWÖHNLICH

Durch die maßgeblich von Martin Luther initiierte Kirchenreformation verloren die Sakramentshäuschen und -türme ihre ursprüngliche Bedeutung und Funktion. Vielfach wurden die nicht baugebundenen Exemplare aus den Kirchen verbannt. Nur in wenigen Fällen gelangten sie in eine Nachnutzung als „Gotteskasten“ zur Sammlung von Geld für die Armen. Dafür wurden meist Unterbau und bekrönender Schmuck entfernt.

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