Aneignung durch Umwandlung

Michael G. Gromotka führt als Lehrer am Ev. Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin regelmäßig Unterrichtsprojekte zur Kirchenumgestaltung durch, gefördert durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz.

Die Umgestaltung von Kirchen als schulischer Lernort

Die Vergangenheit bewahren, die Zukunft sichern: Schüler besuchen die Stadtpfarrkirche Müncheberg (13. Jahrhundert) mit dem „Schiff im Schiff“ von Klaus Block (1991–1996).

Die Zahlen haben gewaltige Ausmaße: Angesichts der ständig sinkenden Zahl von Kirchenmitgliedern werden bis zu 30 Prozent aller Kirchen in Berlin und Brandenburg in den nächsten zwanzig Jahren für den Gottesdienst selten bis gar nicht mehr genutzt werden. Damit wird die Umgestaltung bestehender Kircheninnenräume zur Anpassung an neue Nutzungen auch auf lange Sicht eine der wichtigsten Bauaufgaben sein, die Gemeinden, Architekten, Kommunen und Denkmalpfleger bewältigen und gestalten müssen.

Dies gilt umso mehr, als Kirchen keine gewöhnlichen Gebäude sind. Sie bilden den religiösen Mittelpunkt der Kirchengemeinden, auch wenn diese stark schrumpfen und von Zusammenlegungen betroffenen sind. Kirchen sind einzigartige „Anders-Räume“:

Oft nur hier können Menschen Weite, Stille und besondere Lichtführung erfahren, und diese Räume stehen allen offen – grundsätzlich, ohne dass Eintritt verlangt wird.

Die Kirchen sind auch außerreligiös die baulichen Identifikations- und Fokalpunkte von Dörfern, Quartieren und ganzen Städten. Sie sind oft die Zeugen jahrhundertelangen gesellschaftlichen und religiösen Lebens: Hier haben sich noch bis in die jüngere Vergangenheit nahezu alle Menschen zu religiöser und profaner Nutzung versammelt. Zum Lob Gottes und zur Selbstrepräsentation unterschiedlicher Gemeinschaften wurden alle finanziellen und schöpferischen Kräfte einer Gemeinschaft auf Kirchengebäude konzentriert, so dass diese Bauten oft sehr dauerhaft und in einer sehr hohen gestalterischen Qualität errichtet worden sind.

Kirchen sind aber auch Zeugen der Geschichtlichkeit eines Ortes. Oft wurden sie in der Vergangenheit nicht etwa abgerissen, wenn sich die an sie gerichteten Nutzungs- und Gestaltungsanforderungen verändert hatten. Vielmehr ist die Kirchenumgestaltung schon eine ganz alte und oft mehrfach an einem einzelnen Bau wiederholte Praxis, bei der die Innenräume an neue Praktiken der Frömmigkeit und der Liturgie, an sich wandelnde Gesellschaftsstrukturen und veränderte Vorstellungen von Geschlechterrollen angepasst wurden. Viele Bauten enthalten daher zahlreiche Schichten vergangener Gestaltung, wie etwa modernisierte Altäre, veränderte Bestuhlung, die Neuerfindung von im Krieg verlorenen Gebäudeteilen und immer neue farbliche und bildliche Fassungen.

Wenn heute angesichts sinkender Gemeindezahlen neue Nutzungen für Kirchengebäude gefunden werden müssen, und die Kirchen daher umgestaltet werden, dann wird der lange zurückreichenden Transformationsgeschichte eines Kircheninnenraums im Grunde nur ein neues Kapitel hinzugefügt. Die Geschichtlichkeit eines Kirchbaus hat oft aber auch eine persönliche Prägung: So ist ein bestimmter Kircheninnenraum für viele Menschen ein Stück Heimat und Erinnerung; hier sind sie getauft worden, haben die Erstkommunion, Firmung oder Konfirmation gefeiert, geheiratet oder sich von einem Angehörigen verabschiedet.

Dass leerfallende Kirchbauten nicht abgerissen, sondern umgenutzt werden sollten, hat jedoch auch noch einen anderen Grund, der gerade vielen jungen Menschen sehr bewusst vor Augen steht: Abriss und Neubau von Gebäuden sind extrem klimaschädliche menschliche Aktivitäten, so dass zahlreiche Experten unterschiedlichster Branchen immer wieder fordern, schon allein aus Klimaschutzgründen bestehende Gebäude möglichst zu erhalten.

Angesichts dieser Themenfülle ist die Umgestaltung von Kirchen ein besonders fruchtbarer schulischer Lernort, beispielsweise für den Kunstunterricht. Dies hat sich auch im vergangenen Schuljahr gezeigt, als der Verfasser mit je einer Lerngruppe des zehnten und elften Jahrgangs des Evangelischen Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin exemplarisch eine Kirchenumgestaltung für die Königin-Luise-Kirche in Waidmannslust und die Kreuzkirche in Schmargendorf geplant hat. Gefördert wurde dieses Unterrichtsprojekt durch „denkmal aktiv“, das Schulprojekt der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.

Dabei zeigte sich: Widmen sich die Schüler einem Kirchbau, für den mindestens teilweise eine neue Nutzung gefunden werden muss, so können sie sich tatsächlich mit den unterschiedlichsten gesellschaftlichen, religionspraktischen und gestalterischen Themen beschäftigen. Auf diese Weise können sie beispielsweise eine eigenständige Haltung zu der Frage entwickeln, wie weit ein Kircheninnenraum in seiner historischen Gestalt bewahrt werden sollte und inwiefern jede Generation berechtigt ist, sich ein Gebäude gestalterisch neu anzueignen. Wenn die Möglichkeit besteht, ist es an dieser Stelle besonders fruchtbar, diesen Konflikt zwischen (Um-)Gestalten und Bewahren in der Diskussion mit Vertretern der Praxis plastisch werden zu lassen; im Rahmen des Unterrichtsprojekts am Grauen Kloster wurden die Lerngruppen durch die beiden Leiter der kirchlichen Bauämter besucht. Dabei berichteten Frank Röger für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische-Oberlausitz und Andreas Roth für das Erzbistum Berlin den Lerngruppen, wie teuer ein Kirchbau im jährlichen baulichen Unterhalt ist, und dass es in der Regel einer neuen Nutzung bedarf, um seinen Verfall zu verhindern. Rainer Fisch vom Landesdenkmalamt Berlin, der zur Umgestaltung von Kirchen promoviert hat, diskutierte mit den Schülern, in welchen Fällen das bauliche Erbe als besonders schützenswert betrachtet werden sollte, und dass Umgestaltungen besonders dann gerechtfertigt erscheinen, wenn sie effektiv dauerhaft tragfähige neue Nutzungsformen ermöglichen.

In den fortlaufenden Diskussionen konnten die Schüler auch eine eigene Haltung zu der Frage entwickeln, welche Nachnutzung für ein Kirchgebäude als legitim betrachtet werden kann. Ist eine Umwandlung beispielsweise in eine Bankfiliale zulässig, wenn dadurch der Bau vor dem Abriss bewahrt werden kann. Der Abriss einer Kirche wurde zum Beispiel durch den Förderkreis „Alte Kirchen“ im brandenburgischen Milow (Havelland) verhindert.

Viele Kirchenumgestaltungen dienen allerdings nicht einer vollständigen Profanisierung des Gebäudes, das so etwa zu einem Hotel, einem Konzertgebäude oder einer Bibliothek wird.

Oftmals handelt es sich vielmehr um eine Teilumnutzung, bei der die religiöse Zweckbestimmung erhalten bleibt und eine neue Nutzung hinzutritt.

Dies war auch in den beiden Kirchen in Waidmannslust und Schmargendorf der Fall, so dass sich die Schüler mit der Frage auseinandersetzen mussten, wie christliche Symbolik im Kircheninnenraum mit einer Nutzung etwa als Café, Markt oder Veranstaltungshalle vereinbar ist. Und wie wäre dann mit den Kirchenbänken zu verfahren, die einer flexiblen Nutzung entgegenstehen und eine sehr konservative Gottesdienstpraxis festschreiben, andererseits aber individuell für den Bau geschaffen worden sind und sich durch sehr hohe gestalterische Qualität und ein hohes Alter auszeichnen?

Weitere Fragenkomplexe betreffen die architektonische Formgebung. Besonders an dieser Stelle hat das Projekt erheblich von der Einbeziehung der erfahrenen Architektin und Architekturpädagogin Kerstin Meretz profitiert. Zunächst diskutierte sie mit den Schülern anhand von aktuellen und historischen Beispielen die Frage, was denn eine angemessene architektonische Formgebung für einen Sakralraum sei. Die Diskussionsergebnisse waren dabei oft gegensätzlich; ein heiliger Raum sei demnach beispielsweise sehr weit, ganz eng, hell, dunkel, erhaben, gemütlich, buntfarbig und weiß zu gestalten – eine einfache Antwort auf die Frage, was denn Sakralarchitektur ausmache, gibt es also nicht. Anschließend forderte sie die Schüler auf, anhand von sechs quadratischen Platten aus Finnpappe, Holzleim und einem Cutter mit Lineal und Schneidbrett einen Sakralraum zu schaffen. Auf diese Weise waren die Schüler darauf eingestimmt, die sakrale Wirkung des Kircheninnenraums auf architektonischem Wege zu suchen – und nicht etwa nur durch „Abkürzungen“ wie das Einfügen entsprechender Symbolik oder von Einrichtungsgegenständen.

Besonders wichtig war jedoch auch die kreative Auseinandersetzung mit der vorhandenen Architektur. Anhand eines Fragebogens und gestalterischer Aufgaben mit den Medien Zeichnung und Fotografie sollten sich die Schüler dem vorhandenen Kirchgebäude nähern und seine besonderen Qualitäten erarbeiten. Dabei stellten sie sich die Frage, welche Grundeigenschaften des Kirchgebäudes im Zuge einer Umgestaltung erhalten und geradezu noch gestärkt werden sollten, und ob einzelne Farbgebungen, Einrichtungsgegenstände oder gar bauliche Eigenschaften unter Umständen sogar revidiert, modernisiert oder beseitigt werden sollten. Wie sollten die neuen Formen, die in die Kirche eingebracht werden, adäquat mit dem Vorhandenen in einen Dialog gebracht werden? Durch einen bewussten, harten Kontrast von Alt und Neu? Durch eine Art „Weiterdenken“ des Vorhandenen? Oder durch eine möglichst weitgehende Assimilation an den Bestand, wie sie beispielsweise im 19. Jahrhundert der Restaurator Eugène Viollet-le-Duc gefordert hatte?

Bei all diesen Fragen ging es darum, ein Lernumfeld zu schaffen, in dem die Schüler möglichst eigenständig Ideen erproben und immer weiter optimieren konnten. Auf keinen Fall sollten die inhaltlichen und gestalterischen Lösungen bereits vorgegeben werden, jedoch sollte die Unterrichtsreihe eine denkbar hohe Praxisrelevanz aufweisen, und die Schüler zu einer potentiell hohen architektonischen Qualität der Entwürfe gelangen.

Weitergefasstes Ziel war außerdem eine möglichst hohe architektonische Mündigkeit der Schüler. Allzu viele architektonische Entscheidungen wie etwa die Stadtplanung und die Ausgestaltung öffentlicher Gebäude geschehen heute weitestgehend vorbei an der Öffentlichkeit, obwohl die Einwohner von diesen Entscheidungen ganz wesentlich in ihrer Wahrnehmungspsychologie und dem gesellschaftlichen Funktionieren ihres Quartiers beeinflusst werden. Junge Menschen sollten daher möglichst viele Mittel an die Hand bekommen, um in ihrem weiteren Leben bei architektonischen Fragen mitentscheiden zu können, einen Bedarf zu formulieren und Entwürfe bewerten zu können.

Um diese Ziele zu erreichen, erwies es sich als besonders geeignet, einen Ideenwettbewerb der in Gruppen arbeitenden Schüler zu einem ganz konkreten Kirchenbau zu veranstalten, bei dem sich bereits eine Umgestaltung abzeichnet, wo aber noch keine konkreten Umsetzungsplanungen vorliegen. An dieser Stelle können nämlich beide profitieren: Die Schüler schenken der betroffenen Kirchengemeinde bzw. dem Bauträger eine Fülle neuer Ideen zur Innenraumgestaltung, die die Einstellung der jungen Menschen zu architektonischer Formgebung, Sakralraumgestaltung und moderner Gottesdienstgestaltung widerspiegelt. Dabei können sich die Schüler als besonders selbstwirksam erleben, denn im Rahmen eines solchen Projekts planen sie nicht für die Schublade, sondern können ihre Planungsergebnisse einem Adressaten übermitteln, der diese wertschätzt und wirklich an ihren Gedanken und Gestaltungen interessiert ist. Für die Vermittlung der entsprechenden Gemeinden und eine ständige Begleitung in der Konzeptionierung und bei Zwischen-Kritiken der Schülerarbeiten bin ich dem ehemaligen Leiter des evangelischen Kirchbauamts, Herrn Matthias Hoffmann-Tauschwitz, besonders dankbar.

Als Lernprodukt bietet sich ganz besonders der maßstabsgetreue Bau von Modellen des Kirchbaus an; werden diese im Längs- oder Querschnitt angelegt, so können die Schüler die Umgestaltungsprojekte durch temporären Einbau ihrer Ideen immer neu erproben und weiter zuspitzen. Eine geradezu magische Wirkung hat dabei die Verwendung von Modellfiguren, da diese am Modell Maßstab und Proportion unmittelbar erfahrbar machen – die Raumerfahrung en miniature ist plötzlich ganz nah am Raumerlebnis in tatsächlich gebauter Architektur. Alle Zwischenstände sollten durch Fotografien fixiert werden, wobei diese möglichst auch aus der Höhe des Betrachterstandpunkts der Modellfiguren aufgenommen werden sollten.

Das Unterrichtsprojekt endete im Schuljahr 2021/22 mit der Vorstellung der Architekturmodelle gegenüber den Kirchengemeinden. Die Beschäftigung mit der Kirchenumnutzung geht jedoch weiter: Aktuell entwirft eine zehnte Klasse am Grauen Kloster Pläne für eine Teil-Umnutzung von St. Jacobi in Berlin-Kreuzberg von einer reinen Pfarrkirche in eine Pilgerkirche.

Die hohe Zahl mindestens teilweise leerfallender Kirchen ist dramatisch, bietet jedoch auch viele Lerngelegenheiten. Werden Kirchenumnutzungen durch ein Schulprojekt begleitet, ist dies eine große Chance für Kirchengemeinden, Kommunen und Schüler.

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