von Bernd Janowski

Zwischen Roman und Realität

Wie Fürstenwerder zu einer literarischen Adresse wurde

Bernd Janowski ist Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.

Stadtpfarrkirche im Dorf Fürstenwerder; Fotos: Bernd Janowski

Fürstenfelde. Einwohnerzahl: ungerade. Unsere Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Sommer hat die Nase klar vorn. Unser Sommer fällt kaum schlechter aus als am Mittelmeer. Statt Mittelmeer haben wir die Seen. Der Frühling ist nichts für Allergiker und nichts für Frau Schwermuth vom Haus der Heimat, die wird im Frühling depressiv. Der Herbst ist zweigeteilt in frühen Herbst und späten Herbst. Im späten Herbst hat sich der Landmaschinentourismus etabliert. […] Die Geschichte des Winters in einem Dorf mit zwei Seen ist immer eine Geschichte, die anfängt, wenn die Seen gefrieren, und aufhört, wenn das Eis taut.“ 

So beschreibt Saša Stanišic in seinem Roman „Vor dem Fest“ einen Ort, von dem inzwischen weithin bekannt ist, dass als reales Vorbild für das literarische Fürstenfelde das uckermärkische Dorf Fürstenwerder diente. Für sein Werk erhielt Stanišic 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse; von der Kritik wurde es hochgelobt. Und in Fürstenwerder ist seitdem die Anzahl der Touristen kräftig gestiegen. Sogar Besucher aus Österreich oder der Schweiz bummeln mit dem Buch in der Hand durch die Straßen und suchen nach den skurrilen Protagonisten des Romans. „Literaturreisende, auf nach Fürstenwerder!“, titelte die Neue Züricher Zeitung.

Brigitte und Henning Ihlenfeldt

Vor zwei Jahren feierte Fürstenwerder das 700-jährige Jubiläum seiner ersten urkundlichen Erwähnung. Am 29. September 1319 – wenige Wochen nach dem Tod Woldemars, des letzten askanischen Markgrafen Brandenburgs, hatte Herzog Heinrich von Mecklenburg die Uckermark besetzt – bürgte die Stadt Neubrandenburg für das Wohlverhalten der uckermärkischen Städte, darunter auch die „civitas“ Fürstenwerder. Von der damaligen Bedeutung zeugen noch heute imposante Reste der ehemals etwa 1.200 Meter langen Stadtmauer. Doch die Entwicklung stagnierte; Fürstenwerder – inzwischen wieder brandenburgisch – geriet unter die Abhängigkeit der im nahen Wolfshagen residierenden Familie von Blankenburg. Bereits 1541 taucht erstmals der Begriff „Dorf“ in einer Urkunde auf und 1817 verlor Fürstenwerder auch offiziell das Stadtrecht. Große Verheerungen richtete der Dreißigjährige Krieg an. Noch 1687 waren von ehemals 74 Bürgerstellen nur 17 besetzt: „57 Bürger seynd wüste“. Kaum hatte der Ort sich etwas erholt, da vernichtete im Jahr 1740 ein Stadtbrand 60 Wohnhäuser und 30 Scheunen. Auch von der Kirche blieben nur die Außenmauern erhalten – doch dazu später. 

Heute gehört Fürstenwerder zur Gemeinde Nordwestuckermark und hat etwa 700 Einwohner. Malerisch liegt der Ort zwischen dem Dammsee und dem Großen See; südlich erstreckt sich zusätzlich der Große Parmensee. Kurz hinter dem Ortsschild beginnt bereits Mecklenburg. Zwei Bahnstrecken mit jeweils eigenem Empfangsgebäude – die eine führte nach Templin, die andere nach Dedelow mit Anschluss nach Prenzlau – sind seit Jahrzehnten stillgelegt. Aber es gibt noch ein Lebensmittelgeschäft, einen weit über die Region hinaus bekannten Bäcker, einen Schlachter, ein Restaurant und sogar einen Buchladen mit angeschlossenem Antiquariat und Café. Nur das Annenfest, das bei Saša Stanišic so eine wichtige Rolle spielt – die Handlung des Romans erstreckt sich auf lediglich 24 Stunden, den Tag und die Nacht „Vor dem Fest“ – gibt es nicht und hat es hier auch nie gegeben. Schade eigentlich! Im Buch ist zu lesen: „Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“ Frage an den Tourismusverein: Wäre es nicht eine gute Idee, den Gedanken aufzugreifen? Außer der Heiligen Anna gibt es ja noch viele andere Gründe, Feste zu feiern … 

Kugelbossen als Dekor am Südportal; Foto: Reinhard Bär

Bedeutendstes Bauwerk in Fürstenwerder ist – wie andernorts auch – die aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende Feldsteinkirche. Vor dem Portal empfängt uns das Ehepaar Ihlenfeldt. Henning Ihlenfeldt führte über Jahrzehnte die Bäckerei im Ort. Inzwischen wird diese in fünfter Generation von seinem Sohn Bert betrieben. Außerdem ist Henning Ihlenfeldt Vorsitzender des Tourismusvereins Fürstenwerderer Seenlandschaft e. V. und bietet Führungen durch das Heimatmuseum an, das mit 18 Ausstellungsräumen in einem Ackerbürgerhaus von 1800 untergebracht ist. Seit etlichen Jahren organsiert er in Fürstenwerder Beatles-Festivals und ist ganz nebenbei auch der Chef des bereits 1994 gegründeten Fördervereins Baudenkmal Kirche Fürstenwerder. Seine Frau Brigitte ist Mitglied im Gemeindekirchenrat.

Gleich zu Beginn unseres Kirchenbesuchs konfrontiert uns Henning Ihlenfeldt mit einem Artikel in einer heimatkundlichen Broschüre aus dem Jahre 1959, in dem es heißt: „Das uckermärkische Städtchen (!) Fürstenwerder besitzt nach dem einhelligen Urteil aller Fachleute die schönste aus Granitstein errichtete Dorfkirche der Mark.“ Ob wir auch dieser Meinung wären, ist seine Frage. Wer traut sich da zu widersprechen? Tatsächlich zeichnet sich der auffällig hohe Feldsteinsaal mit seinem schiffsbreiten Westturm durch zahlreiche Detail- und Schmuckformen aus. Auf der Nordseite ist eine Sakristei, auf der Südseite eine Vorhalle aus Feldstein angebaut. Eine Plinthe, ein gekehlter vorstehender Sockel, umzieht das gesamte Gotteshaus. Den Ostgiebel schmücken fünf von Konsolen getragene Bögen über drei schmalen und hohen Fenstern. Im Norden, Westen und Süden finden sich spitzbogige Portale; das nördliche weist fein gearbeitete Kugelbossen als Bauschmuck auf. Der barocke Turmaufsatz mit der geschwungenen schiefergedeckten Haube entstand 1786, beim Wiederaufbau der Kirche nach dem Stadtbrand.

Innenraum nach Westen

Bei Saša Stanišic wird diese Katastrophe in belletristischer Ausschmückung beschrieben: „1740 mitten in der Nacht läutet die schwarze Glocke, und da sie nicht aufhören will, versammelt sich immer mehr Volk in der Kirche, wieder ist dort niemand […] Auf einmal sind von draußen Schreie zu hören, die Stadt brennt! Einige eilen hinaus, die zurück Gebliebenen zu retten, die meisten bleiben im Kirchenschiff und wähnen sich sicher auf dem Meer aus Flammen. Das Feuer brennt alles nieder. Viele, viele sterben, auch in der Kirche. Die schwarze Glocke thront, noch dunkler geworden, auf dem Schutt.“ 

Auch der Innenraum der Kirche wurde nach dem Brand neu gestaltet, wovon heute jedoch nicht mehr viel zu sehen ist. Die Reste eines schlichten barocken Kanzelaltars sind in den Turmunterbau verbannt, in dem auch zahlreiche Gedenktafeln an die Toten mehrerer Kriege erinnern. Ältestes erhaltenes Ausstattungsstück ist die 1877 geschaffene zweimanualige Orgel des Stettiner Orgelbaumeisters Barnim Grüneberg, von der Eberswalder Firma Fahlberg 
in den neunziger Jahren weitgehend im Originalzustand restauriert. Altartisch, Taufe und die an der Südwand befindliche Kanzel wurden 1962 – dem Zeitgeschmack folgend – von der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) „Aufbau“ in Fürstenwerder aus Tonziegeln aufgemauert. Stanišic, der die Umgestaltung in dichterischer Freiheit in die neunziger Jahre verlegt, ist mit der Gestaltung nicht so recht glücklich: „Die Kirche wurde in den Neunzigern 
renoviert. Seitdem ist alles aus Ziegelsteinen. Ziegelstein sieht irgendwie null kirchlich aus. Mal im Ernst: Ein Kamin aus Ziegelsteinen, okay. Eine Garage, okay. … Aber ein Altar?“

Kriegergedächtnistafeln im Turmuntergeschoss

Einziger Schmuck des Innenraumes sind die zahlreichen Bilder mit biblischen Motiven – geschaffen vom Fürstenwerderer Heimatmaler Andreas Kranzpiller. Kranzpiller, inzwischen 96 Jahre alt, kam 1947 nach Fürstenwerder. Der gebürtige Donauschwabe, der wie Saša Stanišic aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, wurde katholisch getauft – was man seinen Bildern in der Kirche durchaus ansieht. In seinem Roman „Vor dem Fest“ hat der Autor auch dem Maler ein Denkmal gesetzt – nur ist es hier eine Malerin namens Frau Kranz, die im Dunkeln bis zu den Waden im See steht, um ein Nachtbild des Dorfes zu fertigen.

Doch zurück zur Kirche. In den neunziger Jahren, so berichtet Henning Ihlenfeldt, ist baulich schon etliches geschehen: Die Dachkonstruktion und die Dachdeckung des Kirchenschiffes wurden saniert, die Westfassade verfestigt, der Kirchturm neu verputzt und im Turminnenraum wurde mit Zugankern das Auseinanderstreben der Außenmauern verhindert. Durch Spenden der Einwohner konnte eine funkgesteuerte Turmuhr installiert und mit neuen Zifferblättern versehen werden. Jedoch war es damals nicht möglich, alle Arbeiten zum Abschluss zu bringen. In diesem Jahr, 2021, soll nun endlich auch die Instandsetzung der gesamten Turmhaube in Angriff genommen werden. Der Förderverein in Fürstenwerder hat bereits angespart, um die Fördermittel aus dem Staatskirchenvertrag des Landes kofinanzieren zu können und auch der Förderkreis Alte Kirchen hat eine finanzielle Zusage gegeben. Immerhin gut 200.000 Euro sollen die Arbeiten kosten. Und eigentlich könnte das Gotteshaus auch gleich neue Glocken gebrauchen. Die derzeit im Turm hängenden Stahlglocken stammen aus dem Jahr 1927 und ersetzten die im Ersten Weltkrieg „für Kaiser, Gott und Vaterland“ eingeschmolzenen Bronzeglocken. Fachleute konstatieren für Stahlglocken eine Lebensdauer von lediglich einhundert Jahren. Leider wurde im 700. Jahr der Ersterwähnung von Fürstenwerder bekannt, dass die dortige Pfarrstelle aufgelöst und nicht mehr besetzt wird. Ein Grund mehr für den Förderverein, sich kräftig in die Sanierungsarbeiten einzubringen. 

Altargemälde von Andreas Kranzpiller

Dies alles und noch Vieles mehr berichtet uns Henning Ihlenfeldt bereits im Rasthaus „Der Gute Hirte“, das die Kirchengemeinde vor wenigen Jahren mit Hilfe von Mitteln der Europäischen Union direkt neben der Kirche eingerichtet hat. Zum Abschied bekommen wir ein duftendes Roggenbrot und eine Tüte mit frischen Vollkornbrötchen aus der Ihlenfeldtschen Bäckerei geschenkt. Der Besuch in Fürstenwerder hat sich also doppelt gelohnt. 

Wovon der mehrfach zitierte Roman „Vor dem Fest“ eigentlich handelt, bleibe hier verschwiegen. Es würde die Grenzen dieses Beitrags um ein Mehrfaches sprengen. Schließen möchten wir dann aber doch nicht mit Saša Stanišic, sondern mit einem noch heute gültigen Zitat aus der Norddeutschen Verkehrszeitung vom 12. Juli 1928: „Fürstenwerder. Ein Idyll! Abseits von der großen Straße, eingeklemmt zwischen zwei Seen, dicht an der mecklenburgischen Grenze, liegt der Flecken. Es ist recht ein Plätzchen zum Ausruhen, eine wahre Fundgrube für Maler und Photographen. […] Wer ein Freund der märkischen Heimat ist, wird hier so manches reizende Plätzchen finden, das ihn entzückt und das er anderswo vergebens suchen würde. […] Dem Wochenendfahrer, der die Uckermark durchstreift, sei geraten, auch Fürstenwerder zu besuchen. Der Besuch lohnt sich.“ Die Kirche in Fürstenwerder ist übrigens täglich geöffnet.

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