von Matthias Friske

Eine Fülle an historischem Inventar

Mittelalterliche Kirchen in der westlichen Altmark

Dr. Matthias Friske studierte mittelalterliche Geschichte und Theologie und arbeitet als Pfarrer in Salzwedel (Altmark).

Dorfkirche Audorf von Südosten; Fotos: Matthias Friske

Im Standardwerk zur Ausstattung mittelalterlicher Dorfkirchen in Europa (Justin Kroesen/Regnerus Steensma, „The Interior of the Medieval Village Church“) wird eine einzige brandenburgische Kirche ausführlicher erwähnt: Die Dorfkirche von Audorf, einige Kilometer südlich von Salzwedel gelegen.

Diese Feldsteinkirche kann jedoch mit guten Gründen für eine ganze Region stehen. Die Altmark – und hier speziell der westliche Teil – bietet dem Besucher noch heute eine außergewöhnlich hohe Dichte an historischen Ausstattungsstücken. Aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock haben sich Inventarien aller Art in einer beeindruckenden Fülle erhalten.

Die Audorfer Kirche verdankt ihre Erwähnung bei Kroesen und Steensma nicht einer besonders ausgefallenen Architektur – selbst ein ehemals vorhandener Turm ging in den letzten Jahrzehnten verloren – sondern einzig und allein der vielfältigen Kirchenausstattung, die der kleinen Kirche eine ganz besondere Atmosphäre verleiht. Die Einrichtung ist offensichtlich im Laufe der Jahrhunderte angewachsen. Beinahe jede Epoche hat ihre Spuren hinterlassen, die letztlich ein mehr als stimmiges und stimmungsvolles Gesamtbild ergeben. Neben einem mittelalterlichen Altarretabel und einem romanischen Taufstein gibt es ein höchst bemerkenswertes Kirchengestühl, etliche Wandmalereien, eine hochbedeutende Glocke des 13. Jahrhunderts, Kanzel und Emporen aus der Renaissance und ein Sakramentshaus, das so gar nicht in den Raum hineinzupassen scheint. 

Dorfkirche Audorf, Innenraum

Das turmartige Sakramentshaus hat solche Dimensionen, dass eine Aufstellung im Chor der kleinen Kirche unmöglich ist. So steht es im Schiff – eigentlich ein indiskutabler Standort für den Schrein, in dem der Leib Christi aufbewahrt wurde. Allerdings dient das Gehäuse auch schon lange nicht mehr diesem eigentlichen Zweck. An diesen erinnern nur noch die schmückenden Bilder. So ziert je eine vergoldete Monstranz die beiden Türen und Heiligenfiguren umstellen den Schrein. Offenbar wurde dieses Werk nicht für die kleine Dorfkirche geschaffen, sondern kam erst später hierher. Wann? Das wissen wir nicht. Aber sicher erst nach der Reformation. Woher? Auch das ist unbekannt, aber es dürfte nicht allzu weit gereist sein. So bieten sich vor allem zwei Kirchen als Herkunftsorte an: Die „Hauskirche“ derer von der Schulenburg in Beetzendorf oder die mysteriöse ehemalige Basilika in Jeeben. 

Diese Kirche in Jeeben verfügt heute nur noch über wenig Ausstattung, hat dafür aber eine umso bemerkenswertere Architektur. Die regelmäßigen Feldsteinquader weisen die Kirche als ein Gebäude des 13. Jahrhunderts aus. Es sticht schon durch seine Dimensionen aus dem Gros der umliegenden Dorfkirchen heraus. Der Blick auf die Details zeigt dann, dass die Kirche früher noch erheblich größer war. So ging nicht nur der westlich vorgelagerte Turm verloren, sondern das Schiff hatte früher auch noch zwei niedrigere Seitenschiffe. Mit dieser basilikalen Gestalt unterschied sich die Jeebener Kirche erheblich von allen anderen Dorfkirchen der Region. Allein dieser Grundriss zeigt, dass es sich wohl ursprünglich nicht um eine Dorfkirche handelte, sondern Jeeben offenbar als Stadt gegründet worden war. In der Literatur herumgeisternde vermeintliche Baudaten (die es über den Dehio bis in das kürzlich erschienene Ortslexikon für die Altmark schafften) erweisen sich letztlich allesamt als Phantasieprodukte. Genau genommen wissen wir so gut wie nichts über die mittelalterliche Geschichte des Ortes, zumal in den Quellen offenbar auch noch Verwechslungen mit dem ähnlich klingenden Jeebel unterliefen. „Nichts“ ist allerdings doch untertrieben, denn die Kirche selbst spricht natürlich schon zu uns, so wie auch alle anderen alten Kirchen mit ihren Ausstattungen die wichtigste Quelle zur jeweiligen Ortsgeschichte sind.

Dorfkirche Jeeben von Südosten

Bis heute prägen zahlreiche Rundlingsdörfer das niedersächsische Wendland. Weniger bekannt ist, dass auch im südlich angrenzenden Raum um Salzwedel der Rundling eine weitverbreitete Dorfform war, denn die Dörfer wurden im 19. Jahrhundert häufig „aufgelassen“. Die winzigen – meist erst aus dem Spätmittelalter stammenden – Feldsteinkirchen des Wendlandes prägen nun aber auch die Altmark westlich der Jeetze. In Hohenlangenbeck wurde eine solche Kirche vor wenigen Jahren mit großem Aufwand wiederhergestellt. Das Dorf präsentiert sich noch heute als ein Rundling, in dessen Mitte sich die winzige Kirche aus Feldstein erhebt. Noch im 16. Jahrhundert trug Hohenlangenbeck den Namen „Wendisch-Langenbeck“, denn es zählte zu den zahlreichen Dörfern mit slawischen Einwohnern, denen ein Pendant mit deutschen Bewohnern benachbart lag (Deutsch-Langenbeck wird heute Siedenlangenbeck genannt).

Die Kirche zeigt altertümliche Bauformen, wie zum Beispiel kleine, rundbogige Fenster und wurde deshalb in manchen Werken als eine Kirche des 12. Jahrhunderts bezeichnet. Mittlerweile wissen wir es genauer, denn der komplett erhaltene Dachstuhl datiert in die Zeit um 1441. Auch diese Kirche bietet ein harmonisches Ganzes. Dazu gehören die Emporen und das Gestühl aus der Zeit um 1700, das noch die Inschriften der seinerzeit im Dorf lebenden Familien zeigt. Damals wurde auch der Kanzelaltar errichtet, und wer sich den Kanzelkorb genauer ansieht, kann feststellen, dass er offenbar aus den Teilen eines mittelalterlichen Altarschreines gezimmert wurde. Bei der Restaurierung der Kirche vor einigen Jahren wurde der, mittlerweile schadhaft gewordene, vordere Teil des Altarblockes beseitigt. Er war erst zur Zeit der Errichtung des Kanzelaltares angefügt worden. Dabei wurde auch der ursprüngliche Altar freigelegt. In seiner Mitte kam ein kleines Reliquiengrab mit einem zerbrochenen Glasgefäß zum Vorschein. Allerdings zeigte sich dann sehr bald auch, dass man den Altarblock um 1700 nicht ohne Grund verlängert hatte – der Altar war einfach zu klein geworden! So gibt es nun also seit wenigen Jahren einen zusätzlichen Holztisch, der die Funktion des „belegten“ mittelalterlichen Altares übernommen hat.

Dorfkirche Rohrberg, Detail der Glocke

Das Besondere in der Kirche von Hohenlangenbeck sind jedoch die in Form einer Bilderwand ausgeführten Malereien. Sie bedeckten ursprünglich alle Wandflächen der Kirche und wurden in den späten 1940er Jahren vom in der Altmark an vielen Orten tätigen Fritz Mannewitz überarbeitet. Die Bilder zeigen das übliche Programm: Szenen aus dem Alten Testament, Bilder der Passionsgeschichte und eine großformatige Darstellung des Heiligen Georg in der Rundung der Ostwand – möglicherweise ein Hinweis auf das ehemalige Kirchenpatrozinium. Die eigentliche Besonderheit findet sich jedoch eher versteckt an der Südseite. Dort bietet sich dem Betrachter die rätselhafte Darstellung einer vom Volksmund „Butterhexe“ genannten Frau. Solche „Butterhexen“ finden sich nicht nur in altmärkischen Kirchen, sondern bis weit nach Skandinavien hinein. Zu diesen Bildern zählen Personen – meist Frauen, durchaus aber auch Männer – die bei land- oder hauswirtschaftlichen Tätigkeiten gezeigt werden. In diesem Fall eben eine Frau beim Buttermachen. Ihr zur Seite gestellt sind kleine teufelartige Gestalten, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen. Die sinnvollste Deutung dieser mysteriösen Darstellungen dürfte die Mahnung zur Sonntagsheiligung sein. Mit anderen Worten: Diese Bilder erinnerten den Betrachter daran, keine Arbeiten am Sonntag zu verrichten, da diese als sündig und verflucht galten.

Wandmalereien sind ortsfest, zur mobilen Ausstattung der Kirchen zählen dagegen die Glocken. Sie bilden in der Altmark – und weit darüber hinaus – den größten Anteil der mittelalterlichen Ausstattung. Eine einmalige Glocke hat sich in Rohrberg erhalten, ehemals ein kleines Landstädtchen. Die dortige Kirche wurde zwar im 19. Jahrhundert erheblich umgestaltet, wie es bei etlichen Kirchen in der Region damals der Fall war, hat sich in ihrer Grundstruktur aber bis heute erhalten. Neben einer bemerkenswerten Sakramentsnische, einem sehr alten Taufstein, einer Kirchentruhe und einem barocken Altar verdient die Glocke im Turm besondere Aufmerksamkeit. Sie ist in Mittel- (vielleicht sogar ganz) Europa die Einzige, die das Bild ihres Herstellers zeigt. Neben den schwungvollen Ritzzeichnungen einer Katharina mit Krone, Schwert und Rad und einer Maria mit Kind auf der Flanke der Glocke findet sich im oberen Bereich noch eine männliche Gestalt. Sie trägt ein gegürtetes Gewand. Eine Hand weist nach rechts, während die andere in die Hüfte gelegt ist. Am Gürtel trägt der eher jugendlich wirkende Mann einen (Geld-?)Beutel sowie einen länglichen Gegenstand. In letzterem wird man sicher einen Stichel für Ritzzeichnungen erkennen dürfen, wie er für solche Bilder genutzt wurde. In einer etwas ungelenken Minuskelschrift steht darüber geschrieben: „ego sum hermanvs me fecit“ – „Ich bin Hermann, der mich machte.“ Da derartige Ritzzeichnungen freihändig in den Mantel der „falschen Glocke“ (Modellglocke) eingebracht werden mussten – eben mit einem solchen Stichel – haben wir hier offenbar die eigenhändige Unterschrift des Herstellers vor uns – verbunden mit seiner bildlichen Darstellung. Diese Glocke ist über ihre Inschrift jahrgenau auf 1337 datiert und so dürfte dies eines der ältesten Künstlerporträts der mittelalterlichen Kunstgeschichte sein. Es besteht wohl auch kaum ein Zweifel daran, dass Hermann nicht nur der Ritzzeichner, sondern zugleich der Gießer dieser Glocke war. Ihm lassen sich auch weitere Glocken im Raum zwischen Uelzen und Arendsee zuweisen und es spricht alles dafür, dass er mit seiner Werkstatt im regionalen Mittelpunkt Salzwedel tätig war.

Mittelalterliche Wandmalereien im Chor der Dorfkirche Hobeck

Ganz nebenbei gibt der frühere Beiname dieser Glocke – die „Alldagsche“ – einen Hinweis auf den städtischen Charakter der Siedlung, denn es ist der Standardname für die zweitgrößte Glocke in einem städtischen Geläut (in anderen Fällen auch „Werkeldagsche“ oder „Apostelglocke“ genannt). Tatsächlich lassen sich für Rohrberg noch vier ehemalige Glocken namhaft machen – ein weiteres Beispiel für den Quellenwert der Kirchen und ihrer Ausstattungen.

Der Reichtum des Überlieferten kann an dieser Stelle nur beispielhaft angedeutet werden. Er verpflichtet dazu, diesen Schatz zu bewahren und ihn für die Zukunft zu erhalten. Das bedeutet erstens die Erschließung des Bestandes, was in der nordwestlichen Altmark besonders dringlich ist, denn für diese Region ist niemals ein Inventarband der Kunstdenkmäler erschienen. Andererseits erwächst daraus auch die Aufgabe, die vorhandenen Schätze zu erhalten, zu pflegen und vor Verlusten zu schützen.

Die Kirchen wurden zum Lobe Gottes erbaut und davon künden sie noch heute. Sie laden zum Besuch ein und knüpfen ein Band zu unseren Vorfahren und zu Gott zugleich.

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