Die unsichtbaren Dorfkirchen
Es ist mit den Städten wie mit den Träumen“, spricht Marco Polo zu dem Mongolenkaiser Kublai Khan: Alles Vorstellbare kann geträumt werden, aber auch der unerwartetste Traum ist ein Bilderrätsel, das einen Wunsch verbirgt oder seine Umkehrung, eine Angst.
Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte
In Italo Calvinos erstmals 1977 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch Die unsichtbaren Städte berichtet der berühmte venezianische Reisende Marco Polo in 55 kurzen Prosagedichten dem Mongolenkaiser Kublai Khan, der sich nach einem erfolgreichen Feldzug auch zum Kaiser von China gekrönt hatte, von imaginären, rätselhaften – unsichtbaren – Städten. Bereits im Prolog heißt es bei Calvino: Nicht dass Kublai Khan alles glaubt, was Marco Polo sagt, wenn er ihm die Städte beschreibt, die er auf seinen Inspektionsreisen besucht hat, aber gewiss hört der Tatarenkaiser dem jungen Venezianer mit größerer Neugier zu als jedem anderen seiner Gesandten oder Kundschafter.
Angeregt durch das großartige Werk des italienischen Dichters hat sich Jan Raue als der Restaurator in die Rolle des Inspektionsreisenden begeben; sein Gegenüber ist der fiktive Provinzial-Konservator und Geheime Rat, der selbst sein Dorf nicht mehr verlässt und den Berichterstatter fragt: Was hast du von den Kirchen des Landes gesehen? Und so beginnt der Restaurator dem alternden Vorgesetzten von den unsichtbaren Dorfkirchen – Städte, so es sie je gab, sind vergangen oder aus ihm [dem Land] geschieden – zu berichten. In den kurzen Sequenzen existiert die Kirche nur in den Köpfen der Bewohner, sie verschluckt die Dörfler, existiert nur noch unter den gewellten Rübenäckern, verschwindet im Nebel oder spurlos in einer Gewitternacht; sie verwandelt sich in ein Schiff und segelt davon oder wird einfach totsaniert.
In der Realität sind die Kirchengebäude in unseren Dörfern (noch) viel deutlicher sichtbar. Unwillkürlich macht sich der Leser jedoch Gedanken über die Zukunft der zahlreichen Sakralbauten in den oft recht kleinen Orten. Zunehmende Säkularisierung und Individualisierung, der demographische Wandel und knappe Finanzen könnten dafür sorgen, dass in absehbarer Zukunft auch etliche real existierende Kirchen unsichtbar werden – wenn schon nicht der vor 800 Jahren aus Feldsteinen fest gefügte Baukörper, so könnten doch die ursprüngliche Funktion und der Sinngehalt verloren gehen und in Vergessenheit geraten.
Illustriert hat das Büchlein Hans Burger mit federleichten Aquarellen, die mehr ahnen lassen als sie zeigen, die architektonische Details auf meist warmen Grundfarben nur andeuten und die die rätselhaften Texte von Jan Raue ebenso rätselhaft kommentieren. Jan Raue und Hans Burger kennen sich seit dem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden in den 1980er Jahren. Beide arbeiten als Restauratoren, Burger als Mitarbeiter des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege, Raue freiberuflich und in der Ausbildung des Restauratoren-Nachwuchses an der Fachhochschule in Potsdam.
Beim Lesen fühlt sich der Rezensent manchmal an die Vanitas-Gedichte von Andreas Gryphius aus dem Dreißigjährigen Krieg erinnert: Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. / Was dieser heute baut, reißt jener Morgen ein; / Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese seyn / Auf der ein Schäfers Kind wird spielen mit den Herden.
Ironie gibt es reichlich in den Texten; mitunter jedoch bleibt dem Leser das Lachen etwas im Halse stecken. Die Sequenzen vermitteln Melancholie und machen nachdenklich. In Calvinos Unsichtbaren Städten zieht der zuhörende Kublai-Khan zum Schluss die nihilistische Bilanz: Alles ist vergebens, wenn der letzte Anlegeplatz nur die Höllenstadt sein kann und die Strömung uns in einer immer engeren Spirale dort hinunterzieht. Bei Jan Raue endet es harmloser: Der Provinzial-Konservator ist bei den Berichten des Restaurators einfach eingeschlafen. Besteht also noch Hoffnung?
Jan Raue: Die unsichtbaren Dorfkirchen. Bilder von Jan Raue. Lukas Verlag, Berlin 2020. ISBN 978-3- 86732-365-9; 64 Seiten, 20 Abbildungen; 10, – Euro