von Anja Liske-Moritz

Entdeckungen an Oder und Spree

Neue Radtouren zu Kirchen der Region

Anja Liske-Moritz, seit 2014 Kreiskantorin im Kirchenkreis Oderland-Spree, initiierte und konzipierte das Projekt kirchentouren.de

Foto: Anja Liske-Moritz
Gedenkstätte auf den Seelower Höhen

Neben meinem Haus steht eine große Schautafel, auf der alle Radwege der Region eingezeichnet sind. Ob Theodor-Fontane-Radweg, Oder-Neiße-Radweg oder der Oderbruch-Radweg: sie alle führen zu interessanten Orten, meist Schlössern, Herrenhäusern und Museen, vorbei an herrlich klaren Seen, Kanälen und Flüssen. Und auch die eine oder andere Kirche lockt, meist in Verbindung mit dem passenden baulichen Ensemble, so beispielsweise in Neuhardenberg oder Neuzelle.

Nicht im Fokus stehen die kleinen, manchmal jedoch auch ungewöhnlich großen Dorfkirchen – oft die einzig erkennbaren Zeugnisse des Erbes vergangener Jahrhunderte im Ort. Sie vermögen die Geschichte des Dorfes und seiner Bewohner zu erzählen – trotz der Wunden durch Kriegsschäden, die mancherorts noch immer nicht geheilt sind und anderswo in den letzten Jahren und Jahreszehnten gelindert werden konnten.Abseits von Touristenströmen. Unabhängig vom Häkchen auf der Gesehen-Haben-Müssen-Liste.

Ihnen diese Schätze zugänglich zu machen ist das Ziel der Website kirchentouren.de.

Exemplarisch möchte ich Ihnen die Tour 2 „Von Krieg und Frieden“ vorstellen, die sich mit Tour 3 „Auf Schinkels Spuren“ zu einer wunderbaren Wochenendrundfahrt verbinden lässt. In allen Orten finden Sie Spuren, oft eher Wunden des Zweiten Weltkrieges, verheilte und offene. Sie erfahren im Gespräch mit den Einheimischen von unglaublichem Engagement beim Wiederaufbau, lernen ungewöhnliche Nutzungskonzepte kennen und werden staunen, wie viele Menschen sich aus den unterschiedlichsten Gründen dafür eingesetzt haben.

Ausgangsort ist Seelow, die Kreisstadt von Märkisch-Oderland, deren zwei Bahnhöfe Seelow/Mark und Seelow-Gusow von Frankfurt, Bad Freienwalde und Berlin aus angefahren werden. In Seelow angekommen, empfiehlt sich zunächst der Besuch der Stadtkirche mit ihrer bewegten und bewegenden Baugeschichte. Nach dem Einsturz des Turmes des Vorgängerbaus am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1820 entschloss sich die Gemeinde zum Neubau. Dieser wurde – noch ohne Turm – nach Plänen von Bauinspektor Siedler, in die Oberbauinspektor Karl Friedrich Schinkel teils stark revidierend eingriff, 1832 fertiggestellt. In den Jahren bis 1837 erfolgte der Bau des Turms. Am 11. April 1945 sprengte ihn die Wehrmacht, wodurch die gesamte Kirche stark beschädigt wurde. Der Wiederaufbau der Kirche begann nach Kriegsende, doch bis 1998 blieb sie ohne Turm. Jahrzehnte später spendete der in Seelow getaufte Dr. Werner Otto, Gründer des Otto-Versands, mehr als 2 Millionen DM für den Wiederaufbau des Turmes sowie für die Erneuerung des Innenraumes. Im Rahmen eines Festgottesdienstes anlässlich der 750-Jahr-Feier Seelows im Jahr 2002 konnte der Sakralraum feierlich wieder in Dienst genommen werden. Heute besticht die Kirche durch ihre Schlichtheit und Helligkeit.

Sollten Sie bereits Appetit auf ein gutes Mittagessen haben, so finden Sie in direkter Nähe der Kirche gleich zwei Restaurants vor: ein griechisches und den „Adler“. Sollten Sie an einem Wochentag in Seelow weilen, können Sie auch zu „Naturkost Nussschale“, ebenfalls auf dem Puschkinplatz, gehen, wo Sie ein vegetarisches Tagesgericht aus Produkten der Region bestellen können. Wer noch nicht hungrig ist, kann nach dem Besuch der Gedenkstätte auf den Seelower Höhen entweder noch einmal in die Stadt zurückkehren oder es sich in Friedersdorf, dem nächsten Zielort, im dortigen „Kunstspeicher“ schmecken lassen.

Von der Seelower Kirche aus erreicht man in wenigen Minuten in östlicher Richtung die Gedenkstätte auf den Seelower Höhen. Das Museum erinnert an die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden und an die mehr als 100.000 Soldaten aus unterschiedlichen Nationen, die bei den Kämpfen um die Brückenköpfe an der Oder sowie um die Seelower Höhen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs ums Leben kamen. Von den weitläufigen Außenanlagen hat man bei entsprechendem Wetter einen wunderbaren Blick über den südlichen Teil des Oderbruchs bis nach Polen.

Foto: Anja Liske-Moritz
Altarbild und Kruzifix in der Dorfkirche Friedersdorf

Von der Gedenkstätte aus kann man entweder wieder ein kleines Stück bergauf ins Stadtzentrum zurückfahren und am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt nehmen, um geradewegs nach Friedersdorf zu kommen. Alternativ fährt man bergab und biegt am Fuße des Hanges rechts ab, vorbei am Seelower Schweizerhaus, welches als das ehemalige Mustergut des jüdischen Bankiers und Politikers Hugo Simon (1880 – 1950) ebenfalls einen Besuch wert ist. Über eine asphaltierte, kaum befahrene Straße und ein kleines Stück Feldweg erreicht man das Vorwerk Ludwigslust, das zu Friedersdorf gehört. Im Vorwerk biegt man rechts ab und fährt bergauf. Spätestens wenn man den hübschen Friedersdorfer Dorfteich erreicht hat, sieht man linker Hand die barocke Kirche. Der einschiffige Granitquaderbau aus dem 13. Jahrhundert beherbergt Epitaphien der Familien von Görzke und von der Marwitz. Der Turm blieb 1945 von der Sprengung verschont; aber durch Granateinschlag entstanden schwere Schäden am Altar und der Sakristei. Ab 1959 wurde die Kirche wegen Baufälligkeit gesperrt; anschließend war sie ein Vierteljahrhundert dem Verfall preisgegeben. 1984 wurde das Dach neu eingedeckt und seit 1991 konnte die Kirche umfassend saniert werden. Betritt man die Kirche heute, erinnert nichts mehr an den einstigen Zustand. Wer in den Genuss einer hochinteressanten Kirchenführung kommen will, möge Zeit mitbringen: Es gibt so Vieles zu entdecken!

Nach dem Mittagessen oder einem Kaffee im Kunstspeicher schräg gegenüber der Friedersdorfer Kirche ist man bereits nach wenigen Minuten in Dolgelin, dessen Kirche erst im Jahr 2019 wieder ein Dach erhalten hat. Der einstige Templerbau aus dem 13. Jahrhundert mit erhaltenen Putzritzzeichnungen aus der Bauzeit wurde im Frühjahr 1945 durch schwere Kämpfe beschädigt, blieb benutzbar, wurde aber 1946 zum Abriss freigegeben. Die gesamte Innenausstattung mit Ausnahme des Taufbeckens ging verloren.

Von Dolgelin aus geht es in östlicher Richtung hinunter ins Oderbruch nach Sachsendorf. Die dortige Kirche ist der einzige spätmittelalterliche Backsteinbau im Oderbruch; sie wurde zwischen 1514 und 1519 errichtet und im Frühjahr 1945 stark zerstört. Das einzig erhaltene Zeugnis der einst reichen Innenausstattung ist der Abendmahlskelch, den der Pfarrer Anfang Februar 1945 im Garten vergraben hatte. Schon 1949 begann der Wiederaufbau. Leider konnte der Turm nicht in voller Höhe wiedererrichtet werden.

Immer der Nase nach erreicht man auf ebener Strecke den kleinen Ort Rathstock, von dessen spätestens 1460 erbauten Kirche sich nur noch Ruinenreste finden. Im Frühjahr 1945 schwer zerstört, wurden die Umfassungsmauern 1949 abgetragen und als Baumaterial verwendet.

In Richtung Oder geht es weiter nach Reitwein, gut sichtbar durch den spitzen Turm der Kirchenruine, die romantisch am Reitweiner Sporn gelegen ist, einer langgezogenen bewaldeten Hügelkette, die steil zum Oderbruch abfällt. In den ersten Februartagen 1945 wurden hier heftige Gefechte zwischen einem Spähtrupp der Roten Armee und der Wehrmacht ausgetragen; dabei wurde die in den Jahren 1855 bis 1858 erbaute Stüler-Kirche stark zerstört. 1970 konnten Pfarrer und Gemeinde die Sprengung verhindern; von 1998 – 2001 wurde der Turm wieder aufgebaut. Wer sich vor der Weiterfahrt noch kräftigen möchte, dem sei der Besuch des Lokals „Reitweiner Heiratsmarkt“ empfohlen.

Auf dem Oder-Neiße-Radweg geht es in Richtung Küstrin/Kostrzyn. Lange folgt man dem unberührten Fluss, vorbei an Tümpeln, Altarmen, Wiesen und Weiden. Die ursprüngliche, sich ständig verändernde Auenlandschaft mit seltenen Pflanzen und Tieren lädt zu Erkundungen ein. In Höhe Küstrin-Kietz bleibt man auf der deutschen Seite und fährt weiter flussabwärts; wer jedoch einen Abstecher zu den Resten der ehemalige Festung Küstrin machen möchte, muss die Oder und damit die Grenze zu Polen überqueren.

Weiter dem Oderradweg folgend, gelangt man nach Kienitz. Die dortige, 1831 errichtete Kirche wurde ab Januar 1945 heftig umkämpft. Einer der Befehlsstände der Roten Armee befand sich in ihrem Keller. Die deutsche Artillerie zerstörte den Turm. In den 1950er Jahren wurde die bereits zum Abriss freigegebene Kirche unter Leitung von Pfarrer Wilhelm Roder instandgesetzt und räumlich neu gestaltet. Es gibt eine Ausstellung zur Geschichte der Kirche sowie über die Pfarrfrau Erna Roder, die ab 1981 mit dem Malen lokaler Motive und dem Verkauf ihrer Bilder, die sie auf Dachschiefer, Papier, Pappe und Keramikfliesen malte, privat die Rettung der verfallenden Kirche initiierte. Neben Kirchsaal und Gemeinderaum entstand vor wenigen Jahren das Kirchencafé „Himmel und Erde“: Bei gutem Wetter kann man mit leckerem Kuchen und Getränken auf Liegestühlen im Grünen sitzen und im offenen Kirchenschiff in den Himmel schauen.Nach dem langen Tag ist eine Übernachtung im Naturerlebnishof Uferloos sehr zu empfehlen: Ferienwohnung, Zirkuswagen, Jurte, Tipi oder eigenes Zelt – alles ist möglich. Wer am nächsten Tag weiterradeln möchte, kann das „Auf Schinkels Spuren“ (Tour 3) tun. Oder man nutzt die Chance, die ursprüngliche Oderlandschaft im Kanu zu erkunden. Und wer jetzt bereits wieder nach Hause möchte, kann vom etwa sieben Kilometer entfernten Letschiner Bahnhof zurück nach Seelow/Mark fahren.

Foto: Anja Liske-Moritz
Dorfkirche Sachsendorf

Der Kirchenkreis Oderland-Spree umfasst in etwa das Gebiet der beiden Landkreise Märkisch-Oderland und Oder-Spree sowie das der kreisfreien Stadt Frankfurt (Oder). Mit vorerst vier Touren innerhalb dieses Gebiets ist unsere Website an den Start gegangen, weitere Routen sind in Vorbereitung. Die Wegeführungen ermöglichen Ihnen durch die individuelle Zusammenstellung den Besuch besonderer Kirchen und Kirchenruinen. Dabei fahren Sie hauptsächlich über wenig befahrene Nebenstraßen, Rad- und Forstwege zu Ihren Zielorten. Die Ausgangs- und Zielpunkte aller Touren sind mit der Bahn erreichbar. Wenn die Strecke nicht als Rundtour konzipiert worden ist, können Sie per Bahn zum Ausgangsort zurückkehren.

Mithilfe der App komoot, die auf der Website heruntergeladen werden kann, können Sie sich problemlos die Wegstrecke von Ort zu Ort zusammenstellen. Alternativ geht das natürlich auch über weitere Anbieter im Internet oder mit geeignetem Kartenmaterial der Region. Auf der Website finden Sie zudem Tipps für Einkehr- und Übernachtungsmöglichkeiten entlang der Strecke. Da die meisten Kirchen nicht ständig geöffnet sind, können Sie über die veröffentlichten Telefonnummern die Hüterinnen und Hüter der Kirchen vorher kontaktieren und so sicherstellen, dass die Tour ein voller Erfolg wird!

www.kirchentouren.de

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