Asche und Diamanten im Chemiedreieck

Frühjahrsexkursion zu spätgotischen Flügelaltären

Anna selbdritte findet man in der Predella des Friedersdorfer Flügelaltars (Sachsen-Anhalt)

Anna selbdritt sieht gewöhnlich etwas förmlicher aus. Hier sitzt Maria mit ihrem Sohn zwar ganz würdevoll in Positur, aber die Hübsche daneben wirkt recht locker. Ob es tatsächlich die heilige Anna ist, wie häufig zu lesen, lässt zumindest zweifeln. Wie dem auch sei: Eine so lebendige Szene gibt es selten in einem gotischen Altar. Schätze dieser Art sind in der Region zwischen Elbe und Fläming keine Seltenheit. Gerade im Chemiedreieck trifft man in großen und kleinen Kirchen auf solche erlesenen Kostbarkeiten. Sie sind eindrucksvolle Beispiele hoher handwerklicher Kunst aus der Zeit zwischen 1470 und 1520. Einige dieser spätgotischen Altäre waren Ziel der Frühjahrsexkursion, zu der der Förderkreis Alte Kirchen diesmal in die Umgebung von Bitterfeld eingeladen hatte. Zu entdecken waren wahre Kleinodien, die neben ihrer besonderen Ausstrahlung auch verblüffende Überraschungen parat hatten

Ausgerechnet durch das Chemiedreieck Bitterfeld, zu DDR-Zeiten Symbol rücksichtslosester Umweltverschmutzung, führt eine Straße von einem gediegenen Kleinod zum anderen. Zu entdecken sind die Schätze in Kirchen am Wegesrand. Die „Straße der spätgotischen Flügelaltäre“, 2009 von einem Förderverein begründet, soll die oft wenig bekannten Meisterwerke mehr in die Öffentlichkeit rücken. Mit der Frühjahrsexkursion des Förderkreises Alte Kirchen folgten wir der Straße ein kleines Stück des Wegs.

In der gewaltigen Stadtkirche von Bitterfeld gibt es gleich zwei dieser prachtvollen Altäre. Der kleinere hat seinen Platz in der alten Kapelle, jenem Relikt aus der Vorgängerkirche, das in den heutigen neogotischen Bau integriert wurde. Die Kapelle ist das älteste Bauwerk der Stadt.

Der Hochaltar im Chorraum mit seinen vier beweglichen und zwei Standflügeln ist nicht nur ein beeindruckendes Kunstwerk, sondern auch ein Meisterwerk handwerklicher Kunst jener Zeit. Je nach Öffnen und Schließen der Flügel ändert sich die Gesamtansicht, Bilder und Skulpturen führen den Gang des Kirchenjahres sinnfällig vor Augen. Es gibt Alltagsseiten und Festtagsseiten, und selbst die kleine Figurengruppe in der Predella, wie oft eine Anna selbdritt, lässt sich durch ein Schiebetürchen verbergen.

Die Feiertagsseite des Mühlbecker Schnitzaltars

Stilwechsel in Mühlbeck: statt Neogotik eine romanische Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert mit komplett erhaltener barocker Innenausstattung. Und vorn der gotische Flügelaltar aus dem Jahr 1503, ebenfalls noch im Originalzustand (Bild oben). Auch in diesem farbenfrohen Ambiente lenkt er mit seinen vergoldeten Holzschnitzfiguren auf der Festtagsseite die Aufmerksamkeit aller Besucher auf sich.

In Friedersdorf könnte höchstens der barocke Taufengel dem vierflügeligen Wandelaltar aus der abgebrochenen alten Dorfkirche die Schau stehlen. Aber dieser Altar macht schon dadurch auf sich aufmerksam, dass hier deutliche Elemente des Übergangs von der Spätgotik zur Frührenaissance erkennbar werden. Die im geschlossenen Zustand sichtbaren Tafelgemälde stammen möglicherweise aus der Schule des Lucas Cranach.


Gesucht wird Dorothea: Dem Altar in Altjeßnitz ist eine Schnitzfigur abhanden gekommen. In der Apsiswölbung sind Reste der Wandmalerei ( um 1200) erhalten

Im Vergleich zu den großen Retabel, die wir zuvor kennen gelernt haben, wirkt der kleine geschnitzte Altar in Altjeßnitz schlicht und bescheiden. Die Madonna auf der Mondsichel im Strahlenkranz hat nur zwei schmale Flügel zur Seite, und dort fehlt auch noch eine Figur. Die heilige Dorothea ist zur Fahndung ausgeschrieben. Irgendwer hat sie entführt. Nun hofft man, dass der Dieb gefasst wird oder ihn das schlechte Gewissen mitsamt Dorothea an den Ort der Untat zurückkommen lässt.

Immerhin aber haben die Altjeßnitzer noch einen zweiten Trumpf im Ärmel: die um 1200 entstandene Wandmalerei in der Wölbung der Apsis. Sie war im Laufe der Zeit übermalt und erst 1948 wiederentdeckt worden. Wer viel Phantasie hat, entdeckt dort unter anderem den thronenden Christus und Maria, Johannes den Täufer und einen Bischof neben den Symbolen der vier Evangelisten.

Die gotischen Schnitzaltäre sind allesamt um die 500 Jahre alt. Maria und Johannes, Augustinus und Barbara und wie sie alle dort versammelt sind, haben Umzüge und Verbannungen, Ruß und Holzwurm fast unbeschadet überstanden. Zu danken ist das den vielen Hütern, die den Schatz bewahrten und bewahren. Einige von ihnen haben wir kennen gelernt. Wir wünschen ihnen weiterhin diesen Enthusiasmus und dieses Verantwortungsbewusstsein für unser Erbe — aber ebenso den kommenden Generationen. Damit solche Schätze auch in den nächsten 500 Jahren in guten Hände sind.

Text und Fotos: Eva Gonda             

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